: Stressabbau im Laufrad
Die zunehmende Isolierung und der Alltagsstress begünstigen die Entstehung von Krankheiten. Untersuchungen an Mäusen und Ratten zeigen, dass es vor allem der zumeist nicht bewusst wahrgenommene Alltagsstress ist, der uns krank macht
VON DIRK BÖTTCHER
Dem Probanden bleiben nur wenige Sekunden. Dann kommt die Meute, attackiert den Eindringling, bis dieser auf dem Rücken liegend kapituliert. Später hockt der nicht geduldete Bewohner vereinsamt in einer Käfigecke und steckt weiter Hiebe ein. „Unsere Versuche bestätigen, dass soziale Isolation der mit Abstand größte Stressfaktor ist, weit vor Elektro- oder Kälteschocks“, erklärt Professor Bauke Buwalda von der niederländischen Universität Groningen den Sinn dieses Experiments. Er praktiziert an einer einzigartigen Population von Wildratten, die in geschlossenen „Gesellschaften“ die Laborkäfige bevölkern. Hatte die Meute ihren Auftritt, erlösen die Forscher den verstörten Probanden und stecken ihn zunächst in Einzelhaft, was bedenkliche Resultate beschert. „Nach nur 15 Minuten in einer fremden Population finden wir noch Monate später Stresszeichen in Blut und Gehirn der abgewiesenen Ratte“, berichtet Buwalda. Interessanterweise bleiben die Stressanzeichen nur in der Isolation beständig. Kehrt die Ratte in das familiäre Umfeld zurück, bauen sich sie sich flugs wieder ab.
Aus den Zuständen in der Rattenwelt glauben die Forscher einiges ableiten zu können, auf das Leben der Menschen und die Frage: warum sich seit einigen Jahren Tumorerkrankungen, Allergien oder Depressionen so bedenklich häufen. Es sieht so aus, als behandele die Medizin mittlerweile nicht nur körperliche Beeinträchtigungen, sondern auch Probleme in der Gesellschaft. Das zumindest in der westlichen Welt fortschreitende Wegbrechen des Gemeinsinns oder das Zerbröseln fester Strukturen, was immer mehr Menschen an den Rand drängt: der Gesellschaft, der Arbeitswelt oder schlicht ihrer Leistungsfähigkeit. Wie die Ratte im falschen Käfig reagiert dann auch der Mensch. Mit Stress, und der macht krank.
Womit nicht die allgegenwärtige Hektik oder Überarbeitung gemeint ist, den Stress also, dem wir alle zu unterliegen glauben. Für Christine Schütt, Professorin an der Uni Greifswald, bedeutet dabei von Stress zu reden „ein Missbrauch des Worts“. Sie echauffiert sich darüber, wie heute in der Arbeitswelt mit Stress „kokettiert“ wird. Stress sei vielmehr, „was oft nicht bewusst erlebt wird, aber sehr belastet“. Ausgelöst durch die Pflege eines todkranken Angehörigen etwa, soziale wie fachliche Überforderung oder eben gesellschaftliche Isolation.
„Uns wird jetzt erst bewusst, wie dramatisch sich das Leben in den westlichen Gesellschaften in den letzten 100 Jahren verändert hat. Ein Aspekt, der in der Medizin lange unbeachtet blieb“, so die Greifswalder Immunologin.
Sie stützt diese Vermutungen auf regelmäßige „Sitzungen mit Mäusen“. In kleine Boxen gesperrt, werden die über zwei Stunden akustisch gestört. Was Mäusen wenig behagt und eigentlich Reißaus nehmen lässt. Die „gezielte Immobilisierung“ bedeutet dann: Stress. Der sich durch die häufigen Sitzungen chronisch verfestigt und akute Krankheitsbilder aufwirft: erhöhte Blutzuckerwerte, Stoffwechselprobleme und schwerste Beeinträchtigungen des Immunsystems, die beispielsweise bakteriellen Infektionen Tür und Tor öffnen. Diese Auswirkungen sind schwerwiegender als bisher angenommen.
Noch vor zehn Jahren waren diese Zusammenhänge völlig unbekannt. Was auch auf die epigenetische Deutung des Stressphänomens zutrifft. Der noch junge Wissenschaftszweig proklamiert seit einigen Jahren ein Verständnis der Medizin für die Evolution des Homo sapiens. Der lebe mittlerweile unter „Raumfahrtbedingungen“, wie Bram van Dam von der Universität Gerona, Spanien, sagt, ausgestattet allerdings mit einem „Steinzeit-Genom“, das sich in den letzten eine Million Jahren gerade mal um 0,5 Prozent geändert hat.
Damals bedeutete Stress: gefressen werden oder nichts zu fressen haben. „Die Lösung dieses Problems war prinzipiell nur durch Bewegung zu lösen“, erzählt van Dam, und so sind auch die durch Stress ausgelösten Körperfunktionen zu verstehen: Anstieg des Energiestoffwechsels und Herunterpegeln der für Flucht oder Jagd unwichtigen Prozesse wie der Immunabwehr. Van Dam bemüht gern das Bild: „Es lohnt sich nicht, gegen ein Bakterium zu kämpfen, wenn mir ein Löwe auf den Fersen ist.“ Dieser Urstress löste sich zudem stets ziemlich schnell auf. Indem man entkam oder eben verspeist wurde.
Anstelle des Löwen plagen heute mobbende Kollegen. Fulltime-Belastungen, die wir am Schreibtisch oder vor dem Fernseher aussitzen, ganz so, wie die gezielt immobilisierte Labormaus die Beschallung. Über Stunden, Tage, Wochen, Monate befindet sich der Körper in Alarmbereitschaft, ohne dass die zur Arbeitsmuskulatur umgeleiteten Energieströme abgearbeitet werden, die sich somit in Fettzellen anreichern. Die heruntergefahrene Immunabwehr bereitet weiterhin Eindringlingen leichtes Spiel. Die Folgen: Anstieg von Fettleibigkeit, Diabetes oder Sepsis-Erkrankungen.
Diese „Symptomkomplexe“ – von Krankheiten möchte die Immunologin Christine Schütt nicht sprechen – sollten ihrer Meinung nach von Psychiatern, Neurologen, Verhaltensforschern, Biologen, Immunologen und Psychologen im Verbund behandelt werden. Was derzeit nahezu unmöglich ist, mangelt es doch für die meisten Stress-Erkrankungen – wie permanente Muskelschmerzen oder Müdigkeit – schon an einer verwaltenden Nummer, sprich: Sie sind im medizinischen Abrechnungskatalog nicht geführt.
Zudem sind Pauschaltherapien kaum anzuwenden, da jeder Mensch über ein individuelles Stress-Bewältigungsmuster zu verfügen scheint. „Wir wissen heute, dass es Zusammenhänge gibt zwischen Krankheiten und wie wir in den Familien und mit unseren Kindern umgehen“, sagt Schütt. Es müsse sich also etwas verändern zwischen den Menschen und in der Gesellschaft.
Zunächst könnte aber bereits ein regelmäßiges Läufchen Wunder wirken. Labormäuse zumindest verkraften die Beschallungssitzungen besser mit einer anschließenden Laufrad-Einheit.