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Archiv-Artikel

China-Erdbeeren für Europa

AUS HELSINKI SABINE HERRE

Das litauische Ostseebad Klaipeda hat in den letzen Wochen unerwartete Schlagzeilen gemacht: dank EU-Kommissar Günter Verheugen, der hier zusammen mit seiner Kabinettschefin Petra Erler händchenhaltend den Urlaub verbrachte. Und sich dabei auch noch fotografieren ließ. Beim „Baltic Development Forum“, einem Netzwerk von Wirtschaft, Wissenschaft und Politik der Ostseestaaten, steht Klaipeda dagegen für etwas ganz anderes: Es ist die Hafenstadt, von der aus sich die boomende Region den Zugang zu einem anderen Meer sichern will. Über Klaipeda, Minsk und Kiew soll in Zukunft einer der wichtigsten Schienentransportwege von der Ostsee ans Schwarze Meer führen.

„East-West Transnational Transport Corridor“ lautet der Name für dieses ehrgeizige Projekt. Es ist bei weitem nicht das einzige Start-up, das sich mit der Verbesserung der Verkehrswege im Dreieck Narvik–Hamburg–St. Petersburg beschäftigt. „InterBaltic“, „Baltic Tangent“, „Baltic Gateway“ oder auch „InLoc“ und „LogVas“ heißen sie. Und das Ziel aller ist sehr ähnlich: 50 Jahre lang war Europa geteilt. Die Verkehrswege führten von Nord nach Süd. Jetzt soll die West-Ost-Verbindung wiederhergestellt werden. Denn im Osten lockt nicht nur der russische Markt. Nein, die Ambitionen sind größer: Nach der anstehenden Modernisierung der Transsibirischen Eisenbahn soll es möglich sein, so Håkan Brynielsson von Baltic Tangent, Waren in weniger als 17 Tagen von China in die EU zu transportieren. Über Suezkanal und Mittelmeer braucht das bisher 35 Tage.

Der Osten lockt

Ein ganz entscheidender Vorteil auf einem rasant wachsenden Markt. Nachgedacht wird über 1.000 Meter lange Containerzüge, über die, um nur ein Beispiel zu nennen, gefrorene chinesische Erdbeeren für die europäische Marmeladenherstellung befördert werden könnten.

Doch wer China erobern will, muss zuerst Russland durchdringen. Und daher wird am Rande des heute stattfindenden EU-Russland-Gipfels in Helsinki ein neuer Vertrag über die sogenannte Nördliche Dimension unterzeichnet. Die ND war Mitte der 90er-Jahre beim EU-Beitritt Finnlands und Schwedens entstanden und soll so etwas wie ein Gegengewicht zur bereits funktionierenden Zusammenarbeit der Mittelmeerstaaten bilden. Gestärkt wurde die ND durch den EU-Beitritt Polens und der baltischen Staaten, Mitglieder sind aber auch die Nicht-EU-Staaten Norwegen und Island – und eben Russland.

Diese Konstellation hat einen Vorteil: Die Ostseeregion ist der einzige Teil Europas, wo EU und Russland eine gemeinsame Grenze haben. Daher fühlt sich der Kreml hier nicht nur als Partner, sondern als Mitglied. Das unterstreicht auch der neue Vertrag: Zum ersten Mal soll Russland voll an den Entscheidungen, die Arktis und Ostsee betreffen, beteiligt werden. Zweimal im Jahr werden künftig Treffen der ND-Außenminister stattfinden. Die Bedeutung von „regional players“ anstelle von „big politics“ wird betont. Kann durch regionale Kooperation im Ostseeraum neues Vertrauen zu Russland entstehen, während es im Rest Europas gerade schwindet?

Zunächst gilt: Durch die Kooperation an der Ostsee entstand der innovativste Wirtschaftsraum Europas, der sich in puncto Wirtschaftswachstum mit Mittelosteuropa einen ständigen Wettkampf um die Spitze liefert. Allerdings gibt es starke regionale Unterschiede: Während Lettland zwischen 2000 und 2005 jährlich um 8 bis 9 Prozent zulegte, hatten Dänemark und die deutschen Ostseeanreiner Schleswig-Holstein, Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern ein Wachstum von weniger als 0,5 Prozent.

Wie selbstverständlich die Zusammenarbeit inzwischen geworden ist, zeigt sich allein an einem organisatorischen Detail: Während bei anderen EU-Treffen Raum für unzählige Dolmetscherkabinen geschaffen werden muss, fehlten diese beim Gipfeltreffen des Baltic Development Forum Anfang November in Helsinki vollkommen. Egal ob aus Vor- oder Hinterpommern, egal ob Este oder Finne: die rund 500 Teilnehmer führten ihre Verhandlungen und Diskussionen auf Englisch.

Mit einer einzigen Ausnahme. Die Eröffnungsansprache von Valentina Matvienko, Gouverneurin von Petersburg, musste aus dem Russischen übersetzt werden. Was der Performance der Vertrauten von Wladimir Putin freilich keinen Abbruch tat. Denn die Heimatstadt des russischen Präsidenten sticht, was wirtschaftliche Dynamik angeht, inzwischen selbst Moskau aus. Der Haushalt hat sich in den letzten drei Jahren verdreifacht. Mit Investitionen von Toyota, Nissan und General Motors ist die Ostseestadt zum Zentrum der modernen russischen Autoindustrie geworden. Überall wird gebaut: ein neues Fußballstadion, ein neues Theater, eine neue Autobahn. Mit 5,5 Millionen Einwohnern hat Petersburg nicht nur ebenso viele Bewohner wie Finnland, es ist zugleich größte Stadt der Region. Kein Wunder, dass das die Fantasie der anderen Ostseestaaten anregt.

Das wichtigste Projekt, das im Rahmen der ND bisher verwirklicht wurde, hat seinen Standort dann auch in Petersburg und trägt den etwas umständlichen Namen „Süd-West-Abwasseraufbereitungsanlage“. 856 Betriebe haben hier zusammengearbeitet, 190 Millionen Euro wurden investiert. In keinem anderen nordeuropäischen Staat gibt es eine ähnlich moderne Anlage.

Andererseits wurde gerade das wichtigste Energieprojekt der Region ohne Beteiligung der Anrainerstaaten vereinbart. Der Bau der Ostseepipeline, die von Petersburg nach Greifswald führen soll, beruht auf einem bilateralen, deutsch-russischen Abkommen und wurde gegen den ausdrücklichen Wunsch von Polen und Balten, unterzeichnet. Das stellt eine offizielle Informationsschrift zur Nördlichen Dimension ausdrücklich fest.

Angesichts dessen fällt umso mehr auf, dass die Kritik der Balten an der Pipeline inzwischen weitgehend verstummt ist. Dies hat einen einfachen Grund, wie auch ein Strategiepapier der „Baltic Europe Intergroup des Europaparlaments feststellt. Wenn die Spannungen mit Moskau wachsen, wird Russland seinen Handel mit der EU über die mitteleuropäischen Transportwege abwickeln – und das Baltikum wird leer ausgehen.

Bloß keine Wertedebatte

Schon jetzt zeigt sich ein Ungleichgewicht: Während Estland fast 60 Prozent seines Handels mit den Ostseestaaten abwickelt, sind es im Raum Petersburg nur 5 Prozent, Tendenz fallend. Und so fordert Igor Yurgens, Vizepräsident von „Renaissance Capital“ beim Baltic Forum, zwar die „Entpolitisierung der Beziehungen“ zwischen Russen und Balten, macht zugleich aber auch deutlich, dass Petersburg nicht auf die Ostseeregion angewiesen ist.

Dabei stehen die Politik Putins, stehen Pressefreiheit oder Menschenrechte bestimmt nicht im Zentrum des Wirtschaftsforums. Allein der Brite Christopher Beazley, Vorsitzender der parlamentarischen „Intergroup“, spricht sich für einen „gemeinsamen Prozess der Geschichtsaufarbeitung“ und damit auch für eine Wertedebatte zwischen Russland und dem Westen aus.

Ansonsten aber bestimmen zwei ganz andere Themen die Diskussionen über Russland: Zum einen haben sich die Erwartungen an die künftige wirtschaftliche Entwicklung verringert. Es gibt zu wenige Investitionen und gut ausgebildete Arbeitskräfte, der Export ist zu sehr auf den Sektor Energie konzentriert. Selbst Putin muss inzwischen einräumen, dass auf sein Land in diesem Winter eine Energiekrise zukommen könnte.

Zum anderen beklagt man in Helsinki die mangelnde Rechtssicherheit nach der praktischen Enteignung des Yukos-Konzerns. Momentan würden, so der jüngste „State of the region report“ des Forums, in der russischen Regierung drei Gruppen für ihre unterschiedlichen Konzepte kämpfen: Liberale Ökonomen stünden gegen Anhänger eines eher skandinavischen Modells sowie die Konservativen, die auf die Gründung von nationalen, staatlichen „Champions“ setzten.

Genau hier dürfte eines der Hauptprobleme für die weitere Kooperation der Ostseestaaten mit Russland liegen. Denn diese Kooperation wird vor allem von kleinen und mittelständischen Unternehmen getragen, die sich bei der Zusammenarbeit mit den russischen Giganten schwertun. Der Hamburger Jürgen Hogeforster, Vorsitzender des „Hanse-Parlaments“, eines Zusammenschlusses von 33 Handwerkskammern und Verbänden der Ostseeregion: „Das Verständnis der russischen Politik für die Bedeutung des Mittelstands fehlt weitgehend.“ Wenn die Zusammenarbeit mit russischen Start-ups dann aber doch möglich werde, sei diese „sehr produktiv“, begeistert sich der Hamburger. So kommt den Ostseestaaten und ihrer alten Hanse heute eine ganz neue Bedeutung zu: als Förderern von kleinen russischen Unternehmen, die neben Putins gelenkter Wirtschaft bestehen können.