RALPH BOLLMANN MACHT : Palermo des Nordens
Die Deutschen glauben eigentlich längst nicht mehr daran, dass bei ihnen alles besser funktioniert als andernorts. Nur die Käufer unserer Staatsanleihen haben es noch nicht mitbekommen
Bald ist Weihnachten, es schneit, und nächstes Jahr wird in Berlin gewählt. Als ich nach drei Monaten im Rheinland wieder in Berlin ankam, musste ich folglich als Erstes an Haiti denken. Kaum hatte ich mein Auto abgestellt und die Umzugskisten ausgeräumt, da fielen schon die ersten Schneeflocken. Es hörte dann gar nicht mehr auf, bis alle Gehwege bedeckt waren und private Dienstleister mit den Bürsten sogenannter Räumfahrzeuge das luftige Weiß nicht etwa entfernten, sondern zu einem äußerst rutschigen Belag komprimierten.
„Berlin ist nicht Haiti“, hatte der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit ein Jahr zuvor gesagt und damit gerechtfertigt, dass er zwar zu Spenden für die Erdbebenopfer in der Karibik aufrief, sich um das Glättedebakel in der eigenen Stadt aber nicht scherte. Dabei war der Wahrheitsgehalt des Satzes an sich nicht zu bestreiten, und wenn es nicht obszön klänge, könnte sich Klaus Wowereit durch den Ausbruch der Cholera zwischen den Ruinen von Port au Prince sogar noch bestätigt sehen.
Leider hatte der Bürgermeister übersehen, dass er für Berlin zuständig ist und nicht für Haiti. Und dass sich die Leute inzwischen nicht mehr sicher sind, ob die Dinge in Deutschland besser laufen als andernorts: Müssen wir wirklich bis nach Haiti schauen, um ein schlechter organisiertes Land zu finden?
Klar, es gibt für vieles eine Erklärung. Das Netz der Deutschen Bahn ist auch deshalb so langsam und unübersichtlich, weil es so viele Möchtegernhauptstädte miteinander verbinden muss. Und vielleicht lohnt es sich bei dem hiesigen Klima tatsächlich nicht, die deutschen Flughäfen so winterfest zu machen wie ihre skandinavischen Pendants. Die ungleichen Chancen in den Schulen des Landes sind vielleicht der Preis, den wir für unser liebenswürdiges Gymnasium zu zahlen haben.
War früher alles besser? Sind wir heute weniger geneigt, über Unzulängliches hinwegzusehen? Oder sehe ich die Dinge zum jetzigen Zeitpunkt nur so kritisch, weil ich gerade drei Monate in Köln verbrachte? In jenem Palermo des Nordens, wo ab und zu ein Stadtarchiv im Erdboden versinkt, weil die Leute nur an den eigenen Vorteil denken und sonst allenfalls noch an den Karneval? Wo die Städtischen Bühnen auf ihre eigenen Karten eine zehnprozentige Vorverkaufsgebühr erheben müssen, weil sie dem Ticketsystem des örtlichen Großverlegers keine Konkurrenz machen dürfen?
Ein Glück, dass sich das alles bis an die Börse noch nicht herumgesprochen hat. Die Anleger verleihen ihr Geld der Bundesrepublik Deutschland noch immer zu ausgesprochen niedrigen Zinsen, geben sich mit bescheidenen 3 Prozent für eine zehnjährige Anleihe zufrieden. Vielleicht ist auch das ein Grund, warum der Widerstand gegen gemeinsame Eurobonds hierzulande so groß ist: Es entfiele einer der letzten klaren Hinweise, dass manches in diesem Land noch besser funktioniert als andernorts. Zumindest als im schneearmen Griechenland oder Portugal.
Es muss ja nicht immer gleich Haiti sein, dachte ich mir. Als ich zum Wochenende die Winterreifen aufzog, um für das Wetter präpariert zu sein.
■ Der Autor leitet das Parlamentsbüro der taz. Zurzeit arbeitet er an einem Buchprojekt, bis Mitte Dezember war er „Journalist in Residence“ am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln