: Parallele Meisterschaften
MUSICAL Die Verhältnisse zum Tanzen bringen: Darin war der Regisseur Vincente Minnelli groß, schon weil er Revue und Hochkultur miteinander ins Spiel brachte. Seine Musical-Filmreihe im Arsenal ist ideal für die Feiertage
VON THOMAS GROH
Mit einiger Wucht schleudert Fred Astaire einen Haufen Magazine in ein Gemälde, reißt gleich noch Bücher vom Regal und zerstört abschließend mit energischen Tritten eine Plattensammlung. Nur eine LP kriegt er nicht klein: eine Aufnahme von „Carmen“ – „unbreakable“ steht in großen Lettern darauf. Gegen die Hochkultur ist nun einmal kein Ankommen.
Es ist ein Wüten wider die etablierte Kunst, das hier in Szene gesetzt wird, der ewige Widerstreit des Künstlers mit ihr. Und doch lebt man für sie: Auf die Bemerkung seiner Tanzkollegin (Cyd Charisse), sie habe nicht gewusst, dass Hotels ihre Zimmer mit so kostbaren Prints schmücken, entgegnet Astaire lakonisch, es seien die eigenen und, bitte schön, Originale, keine Prints.
Die Szene stammt aus „The Band Wagon“, gedreht hat sie Vincente Minnelli 1953, sie findet sich in jenem Genre, das noch am strengsten unter Eskapismusverdacht steht: im Hollywood-Musical. Hier steht sie für den Konflikt des Films: Astaire spielt einen „Has Been“ der Musicalbühnen, den ausgerechnet ein Pakt mit einem dezidiert Kunst wollenden Regisseur ins Rampenlicht zurückbringen soll. Sie markiert aber auch ein häufig anzutreffendes Motiv in Minnellis Werk – der Künstler zwischen den Fronten und Begriffen seiner Kunst – und kommentiert zugleich Minnellis eigene Position im Hollywood-Studiosystem, dessen „goldene Ära“ Minnellis Musicals und Melodramen entscheidend mitprägten.
Denn die Nähe zur Kunst suchte der Meister der gleitenden Kamera auch im Industrie-Hollywood, das auf Standards Wert legte, durchaus: Schier endlos lang ist etwa die Liste der Museen, die für „Lust for Life“, einem eindrücklichen Melodram über die letzten Lebensjahre Vincent van Goghs (Kirk Douglas), ihre Archivschätze von Minnellis Kamera behutsam abtasten ließen. Für das Bühnenbild einer Traumsequenz in „Vater der Braut“ engagierte er, wie fünf Jahre zuvor Alfred Hitchcock, Salvador Dalí. In „Ein Amerikaner in Paris“, einer quietschbunten Liebesgeschichte um einen Bettelkünstler (Gene Kelly) in Paris, kommt das Musical zum Ende hin als Form gar völlig zum Erliegen und mündet in eine atemberaubend choreografierte Ballettsequenz vor aufwendigem Dekor.
Nichts erinnert da mehr an Tand und Schmiss herkömmlicher Revuenummern: Aus einer einzelnen Rose entblättert sich eine 20 Minuten währende Kunstwelt aus Farbe, Klang und Bewegung – und kein einziges Wort, ob gesprochen, ob gesungen, kommt mehr über die Lippen. Wer dieses Glanzstück ambitionierten Filmschaffens einmal im Kino gesehen hat, wird es nie mehr vergessen können. So bringt Minnelli denn, wie Astaire auf rabiate Weise im Hotel, die hohe und die niedere Kunst im Frontalcrash zusammen.
Die hohe Kunst erschüttert das nicht recht, sie bleibt „unbreakable“ – doch das Musical schlägt aus der Sache Gewinn: Bei Minnelli, der es seit den frühen 40ern von seinem Revuecharakter emanzipierte und in die Nähe psychologisch realistischer Erzählweisen rückte, bildet es sich zur Kunstform ganz eigenen Rechts überhaupt erst richtig aus.
Das Projekt eines einzelnen Autorenfilmers aber, der eine stilistisch eindeutig benennbare Perspektive auf die Welt entwirft, ist dies nun gerade nicht. Vielmehr zeigt sich hier, was der französische Filmtheoretiker André Bazin als „Genie des Systems“ bezeichnet hat: das Bündnis von je für sich genommen zur Meisterschaft gereiften Einzeldisziplinen – vom Drehbuch bis zur Musik, von der Choreografie bis zum Setdesign, von der Regie bis zur sensiblen Technicolor-Farbabstimmung – ergibt weit mehr als nur die Summe der einzelnen Teile.
Meisterlich ist dabei auch Minnellis Mise en scène: Seine Musicalnummern fokussieren nicht bloß den Vordergrund, sie reichen in mehreren Schichten bis tief in den Bildhintergrund hinein. Seine Spezialität sind regelrechte Wimmelbilder von Massenszenen, in denen jeder Fingerzeig und jede Geste minutiös aufeinander abgestimmt sind. Eine ausgelassene Party etwa wird so bei ihm zur Sache der Feintarierung. Was 1968, knapp 15 Jahre später, am Ende der klassischen Glanztage Hollywoods, bei Blake Edwards’ „The Party“ in ein einziges fröhliches Chaos zerbirst, ist bei Minnelli noch ganz kontrollierte Dynamik.
Bereits seit 17. Dezember und noch bis 16. Januar zeigt das Berliner Kino Arsenal eine Auswahl von Vincente Minnellis Filmen. Ein schöneres Weihnachtsgeschenk an die Stadt lässt sich kaum denken.