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Archiv-Artikel

königsbergs furchtbare furien von JOACHIM SCHULZ

Als Theo vor knapp zwei Jahren der Bahnhofstraßen-WG „Farewell!“ sagte, zog er in eine hübsche, helle Zweizimmerwohnung, die über einen kleinen Garten verfügte und einen schönen Blick auf einen nahen Park besaß. Einen Nachteil aber hatte die Wohnung doch, und der bestand in Gundel & Gretel – zwei alten Damen, die eine Etage höher wohnten.

Die beiden waren Cousinen, sprachen einen breiten ostpreußischen Dialekt und hatten fast 40 Jahre lang als Oberschwestern am Städtischen Klinikum gearbeitet, wo sie, wie man Theo bald erzählte, noch immer als „Königsbergs furchtbare Furien“ berüchtigt waren. Schon beim Einzug lernte er sie kennen: Während er und sein Umzugsteam Kisten schleppten, standen Gundel & Gretel auf dem Treppenabsatz und hielten ihm einen Vortrag über die Hausordnung. Am Schluss, er schwankte gerade mit einem Karton voller Schallplatten vorbei, hängten sie ihm ein Holzschildchen um den Hals und sagten: „Sö sönd gleich döse Woche dran – vörgössön Sö das nöcht!“ Auf dem Holzschildchen aber stand: „Treppe kehren und wischen!“

„Ich fürchte, das ist kein gutes Omen“, seufzte Theo und sollte Recht behalten. Obwohl er die Hausordnung mustergültig befolgte, verging kaum ein Tag, an dem sich die Furien nicht über ihn beim Vermieter beschwerten. Sie behaupteten, dass der Rauch seiner Zigaretten durch die Zimmerdecke steige, stöberten im blitzblank gewienerten Treppenhaus letzte Staubkrümel auf und klagten lauthals, wenn dem offenen Küchenfenster der Duft von gebratenem Knoblauch entwich. Einmal, als er es wagte, im Garten zu grillen, riefen sie die Feuerwehr – und noch heute bezahlen sie einen Anwalt, da ihnen die Kosten für den Einsatz aufgebrummt wurden und sie darauf hoffen, die Rechnung per Gerichtsbeschluss auf Theo abwälzen zu können.

Besserung schien in Sicht, als er ihnen einmal als Lebensretter beisprang. „Hölfe! Hölfe!“, hörte er es von oben rufen. Er lief in den Garten und sah, dass Gundel sich wahrscheinlich bei dem Versuch, in seine Fenster zu linsen, zu weit über das Balkongeländer gebeugt hatte und ihre Cousine sie nur noch mit Mühe festhalten konnte. Theo stürmte die Treppe hinauf, trat die Tür ein, rettete sie vor dem Absturz und wurde zur Belohnung mit Dank überschüttet. Wochenlang bekam er Schokolade, süßen Sekt und sogar billige No-Name-Zigaretten geschenkt.

Nach haargenau drei Monaten aber hielten die Furien ihre Schuld offenbar für getilgt, denn plötzlich stand wieder der arme Vermieter vor Theos Tür, wrang seine Mütze zwischen den Fingern und sagte: „Ich will mich nicht in Ihr Privatleben einmischen – aber könnten Sie es sich nicht vorstellen, beim Kochen auf Knoblauch zu verzichten und das Rauchen aufzugeben?“

Das jedoch konnte Theo nicht, weshalb er aus der hübschen Zweizimmerwohnung mit Parkblick nach kaum einem Jahr wieder auszog und sich über diesen Verlust allenfalls dadurch ein wenig hinwegzutrösten vermochte, dass er sie an einen ehemaligen Mitbewohner aus der Bahnhofstraßen-WG weitervermittelte, der eine gewaltige Hi-Fi-Anlage besaß und unablässig Free-Jazz-Platten in einer guten Lautstärke zu hören pflegte.