DIE EU TRÄGT SELBST DIE SCHULD AN DER UNGELÖSTEN ZYPERN-FRAGE
: Späte Folge eines Fehlstarts

Gestern hat sich noch einmal bestätigt, dass die Beitrittsgespräche der Türkei mit der EU im vergangenen Jahr mit einem Geburtsfehler gestartet wurden. Wider besseres Wissen hatte die EU vor zwei Jahren Zypern zum Vollmitglied gemacht, ohne zuvor auf der Wiedervereinigung der beiden Inselhälften zu bestehen. Von Anfang an war allen Beteiligten klar, dass ihnen dieses Problem früher oder später auf die Füße fallen würde.

Wenn sich Frau Merkel und andere jetzt darüber entrüsten, dass es doch ein Unding sei, wenn ein Beitrittskandidat sich weigere, ein Vollmitglied jenes Clubs völkerrechtlich anzuerkennen, dem es beitreten wolle, dann zeugt das von einer beachtlichen Chuzpe. Der Brustton der Überzeugung lässt sich nur deshalb so glaubwürdig inszenieren, weil die Mehrheit der EU-Bevölkerung über das, was da weit hinten im östlichen Mittelmeer passiert, wenig Kenntnisse besitzt.

30 Jahren dauerte die Teilung Zyperns schon an, bevor 2004 über einen UN-Plan zur Wiedervereinigung der Insel abgestimmt wurde. Die EU unterstützte diesen Plan, der von den Inselgriechen aber gezielt sabotiert wurde, während die türkischen Zyprioten ihm mehrheitlich zustimmten. Wer jetzt so tut, als weigere sich die Türkei, ein beliebiges, normales EU-Land anzuerkennen, der stellt den Staats- und Regierungschefs der EU ein politisches Armutszeugnis aus. Es kann kaum verwundern, dass die meisten Türken dahinter nichts anderes als einen willkommenen Vorwand vermuten, die Verhandlungen, die mittlerweile eine Mehrheit in der EU sowieso nicht mehr will, im Sande verlaufen zu lassen.

Allenfalls geht es im Moment noch darum, wer dafür den Schwarzen Peter zugeschoben bekommt. Aber auch dafür eignet sich Zypern besonders gut. Bei allen anderen Fragen, von den Menschenrechten bis zu den Bedingungen der wirtschaftlichen Harmonisierung, kann man immer darüber streiten, ob das Glas halb voll oder halb leer ist. In der Zypern-Frage dagegen hört es sich scheinbar selbstverständlich an, dass die Türkei Zypern anerkennen müsse. An die Vorgeschichte zu erinnern ist da wesentlich komplizierter.

JÜRGEN GOTTSCHLICH