BERLIN PANIERT : Die hungrige Wahl
Ich sitze in der Bahn und habe Hunger. Zwar knurrt mein Magen nicht und ich bin ziemlich gut drauf, aber Hunger habe ich trotzdem, ist ja wohl klar. Sonst würde ich nicht alle Wahlplakate, die am Fenster vorbeiziehen, falsch lesen. „Damit ein stabiler Espresso allen hilft“, so fängt es an, nur steht da nicht wirklich „Espresso“, da steht was mit „Euro“. „Hmm“, mache ich und bin vage enttäuscht.
„Berlin paniert“, lese ich als Nächstes, kurz denke ich wieder, dass es wirklich da steht, und das, obwohl ich Panade gar nicht mag. Ich schau aufs Plakat und nehme mir vor, in Zukunft früher aufzustehen, damit ich nicht los muss so ganz ohne Essen im Bauch. Und wo ich das denke, knurrt mein Magen dann doch. Ich fasse hin und streichle ihn, und das ist auch gut so, denn sonst hätt ich mein Handyklingeln verpasst. Ich hör mein Handy nie, wenn es klingelt; ich hör immer nur die Handys von anderen klingeln. Aber mein Handy vibriert auch beim Klingeln, und weil meine Hand grad meine Jackentasche berührt wegen Magenberuhigen und so, höre ich’s diesmal doch. Ich geh ran und grad, als ich das tu, zieht draußen noch ein „Berlin paniert“ vorbei, und jetzt lese ich’s richtig, „pariert“. Ach, denke ich und sage „Hallo“ in den Hörer. „Du“, sagt meine Freundin am anderen Ende der Leitung, „irgendwas ist komisch mit meinen Augen.“
„Ja?“, frag ich und schau aus dem Fenster, zu paniert-pariert und Euro-Espresso. „Ich glaub, mit meinen auch.“ Und mir kommt ein Gedanke, so abwegig, dass er wohl stimmen muss. Ich schlucke und dann sag ich es ihr: „Ehm, ich glaub, ich hab aus Versehen …“, ich stocke, aber dann rede ich weiter, „… deine Kontaktlinsen drin. Und du jetzt meine, nehme ich an.“ „Oh“, sagt meine Freundin, und „Oh“ sage auch ich. Und dann sagen wir nichts mehr, denn das ist schon ein ganz neues Level an Intimität, mit dem wir erst mal klarkommen müssen. JOEY JUSCHKA