Gründerzeit der Raver

BERLIN Andreas Muhs hat in seinen Schwarz-Weiß-Fotos aus der Nachwendezeit einen letzten Blick auf das alte Gründerzeit-Berlin geworfen, bevor es verschwand. Jetzt sind sie als Bildband erschienen

Sein Buch erzählt präzise vom Verschwinden von etwas Altem

VON ULRICH GUTMAIR

Mit der Mauer fängt es an. Von Osten her kann man sie nicht sehen, weil ein komplexes Regime von Barrieren, Selbstschussapparaten, Patrouillen, Zugangsberechtigungen, Entmietungen den gemeinen Bürger der Hauptstadt der DDR gar nicht erst herankommen lässt. Auf der anderen Seite malt man sie bunt an, macht sie zum größten Graffitikunstwerk der Welt und lässt den grauen Osten dahinter einfach verschwinden.

Auf dem ersten Foto in Andreas Muhs’ Fotoband „Berlin. Die frühen Neunziger“ lässt sich der westliche Blick auf dieses absurde Bauwerk noch einmal einnehmen. An der Sebastianstraße macht die Mauer eine Kurve und kommt den alten Häusern auf der Westseite so nahe, dass ein Auto wohl gerade noch dazwischenpasst. Auf der Straße liegen schimmlige Matratzen in Pfützen und anderer Unrat. Ist hier das Ende der besiedelten Welt? Könnte man denken, es ist aber nicht so.

Auf der anderen Seite leben andere Berliner, und sie wollen rüber. Und so folgen in Muhs’ schönem Buch Bilder von der Maueröffnung und den Jahren danach. Sie zeigen Volkspolizisten, die von Mauerspechten verursachte Schäden von Westen her begutachten; ein Straßenschild, auf dem noch „Berlin“ steht, „Hauptstadt der DDR“ aber überklebt wurde; Hinterhöfe, in denen seit 1945 die Zeit stillgestanden zu haben scheint, Berge von Müll auf einsamen Straßen, Cyberpunkskulpturen; Besetzerhunde; den leeren Potsdamer Platz; das Weinhaus Huth in voller Kalter-Kriegs-Idylle; die typischen Waschbecken, Duschen und Fliesen aus volkseigener Produktion im Hotel Adria in der Friedrichstraße.

Seit Andreas Muhs, Student der Volkswirtschaftslehre in Hamburg, sich 1989 nach Berlin aufgemacht hatte, um die Maueröffnung mitzuerleben, hat ihn der Gedanke an die Stadt nicht mehr losgelassen. Im Sommer 1991 zieht er nach Berlin. Er wird Leiter eines Fotolabors am Alex und fotografiert. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Schon am 9. Januar 1993 notiert der Fotograf: „Das alte Ost-Berlin schwindet, ja, das alte Berlin der Jahrhundertwende wird von Tag zu Tag kleiner. Die Ausschnitte, die die Atmosphäre vermitteln sollen, müssen sorgfältiger gewählt werden. Mit dem Weitwinkel ist nicht mehr viel zu machen.“

Damit hat Muhs präzise beschrieben, was ihn und seine Fotos interessiert. Seine Kamera sucht und erfasst das Gründerzeit-Berlin, diese Hervorbringung von Kaiserreich, Industrie und Imperialismus, das Krieg, Bürgerkrieg, Depression, Nationalsozialismus erlebt und von den neuen Machthabern dem Verfall preisgegeben wird. Der Wille, dieses kaiserlich-bürgerliche Berlin verrotten zu lassen, ist paradoxerweise der Grund, warum man es nach 1989 für einen kurzen Moment und noch ein letztes Mal betrachten konnte.

Es macht Spaß, sich Andreas Muhs’ Schwarz-Weiß-Fotos anzusehen, die uns viel erzählen über Gründerzeit und Sozialismus und einige Charakteristika des Nachwendeberlins. Ihr Blickwinkel ist deutlich von Muhs’ romantischer Idee der Jahrhundertwende geprägt. So erzählt sein Buch präzise vom Verschwinden von etwas Altem, aber kaum von der Existenz dessen, was sich kurzzeitig in die Ritzen der Ruinen gesetzt hatte. Wo sind die grünen Plastikrasen vor den Kiosken und Spätis? Wo die „Test the West“-Slogans auf Aufstellern, die sich im Wind drehen?

Hin und wieder aber blitzen in der ruinösen Gründerzeit kleine Botschaften aus der Zwischenzeit auf. Ein Graffito in der Pfarrstraße zeigt ein Anarcho-Zeichen und fordert: „Fight the D“. Und auch die Raver sind da, sie sitzen und stehen auf einem Truck, der eben das Brandenburger Tor passiert. Es ist eine vergnügte Gesellschaft, die ihre eigene Gründerzeit feiert.

■ Andreas Muhs: „Berlin. Die frühen Neunziger. Fotografien 1989–1994“. Lehmstedt Verlag, Leipzig 2010. 144 Seiten, 100 ganzseitige Duotone-Abbildungen. 19,90 Euro