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Archiv-Artikel

Was tun mit der Leiche im Kofferraum

Ein Feelgood-Movie aus dem Südwesten der USA: „Little Miss Sunshine“ von Jonathan Dayton und Valerie Faris schickt eine ganz normal verrückte Familie auf große Fahrt – diverse Autopannen und ein Todesfall inbegriffen. Zu wirklich großer Form findet der Film in seinem kühnen Finale

VON CRISTINA NORD

Olive ist sieben, ein bisschen dick, und ihre Brille hat so mächtige Gläser, dass sich ihre Augen disproportional zum Rest des Gesichtes vergrößern. Wenn im Fernsehen eine Miss-Wahl übertragen wird, steht Olive dicht vor dem Bildschirm, um die Gesten und die Mimik der Schönheitsköniginnen nachzuahmen. So spreizt sie die Finger, legt die Hände an die Wangen oder reißt den Mund in affektierter Freude auf. Später übt sie mit ihrem Großvater, wie sie die Hände raubkatzengleich nach vorne streckt und dazu faucht, als würde sie sich um einen Job in einem Nachtclub bewerben.

Olive (Abigail Breslin) ist das jüngste Mitglied der Familie Hoover aus Albuquerque, New Mexico. Ihr Bruder, der 15 Jahre alte Dwayne (Paul Daney), liest Nietzsche, hat ein Schweigegelübde abgelegt und trägt ein gelbes T-Shirt, auf dem „Jesus was wrong“ steht. Sobald der Vater Richard (Greg Kinnear) den Mund aufmacht, kommt Erfolgsrhetorik heraus; seinem Gewinnergeist und seinem penetrant positiven Denken spottet seine desolate Finanzlage. Außerdem gibt es einen schwulen Onkel namens Frank (Steve Carell), seines Zeichens Literaturwissenschaftler und Proust-Experte, der pastellfarbene Ringelsöckchen trägt und einer unerwiderten Liebe wegen versucht hat, aus dem Leben zu scheiden, und den Großvater (Alan Arkin), der aus dem Altenheim geflogen ist, weil er Pornos mag, Heroin nimmt und unablässig Zoten von sich gibt. Die Mutter Sheryl (Toni Colette) schließlich hält den Laden zwar zusammen, aber nur unter Aufbietung all ihrer Nervenkraft.

„Little Miss Sunshine“, das Regiedebüt von Jonathan Dayton und Valerie Faris, inszeniert die Hoovers als ganz normal verrückte Familie. Es setzt sie zusätzlich unter Druck, indem es sie auf große Fahrt schickt. Damit Olive an einem Schönheitswettbewerb teilnehmen kann, machen sich alle Familienmitglieder im VW-Bus auf die Reise von Albuquerque nach Los Angeles. Das folgt in weiten Teilen der Logik des Feelgood-Movies: Die Pointen sind frech, aber nicht ätzend, die weiten Landschaften des US-amerikanischen Südwestens bilden eine schön anzuschauende Kulisse, und der Nonkonformismus der Familie Hoover reicht genau so weit, dass noch jedem Konformisten warm ums Herz wird. Selten verwandeln sich die Pannen in echte Dramen, und bevor es weh tun könnte, streben Dayton und Faris rasch zurück auf sicheres Terrain. Als sich überraschend ein Todesfall ereignet, münzen die Regisseure die Trauer darüber binnen Sekunden in schwarzen Humor um, indem sie die alte Komödienfrage stellen: Was tun mit der Leiche im Kofferraum?

Zu großer Form läuft „Little Miss Sunshine“ auf, als die Familie das Ziel ihrer Reise erreicht. Der Schönheitswettbewerb ist ein Albtraum. Die Mädchen schauen aus, als hätten sie das Programm aus Botox, Silikon, Fettabsaugen und nose job schon hinter sich. Zum Dauerlächeln sind ihre Gesichter erstarrt, mit roboterhafter Koketterie treten sie zum Cat Walk an. Je dicker das Make-up, um so größer die Fratzenhaftigkeit.

Der Literaturwissenschaftler Winfried Menninghaus hat in seiner Studie „Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung“ geschrieben, es löse Ekelgefühle aus, wenn sich Jugend und Alter auf unerwartete, unbestimmbare Weise vermischen. In „Little Miss Sunshine“ gelangt diese These zur Anschaulichkeit. Die Gesichter der Mädchen könnten die von Greisinnen sein. Ihrer Kindlichkeit zum Trotz treten sie als hypersexualisierte Wesen auf – eine erschreckende Mischung aus alter Vettel und Lolita.

Doch dann kommt Olive, nicht wie die anderen im knappen Glitzerdress, sondern in Anzug, Zylinder, weißem Hemd und roter Krawatte. Der DJ legt Rick James’ „Superfreak“ auf. Wurde die sexuelle Aufladung von Olives Konkurrentinnen nur unterschwellig ausgespielt, so kommt sie jetzt in aller Kenntlichkeit zum Ausdruck. Denn Olive reißt sich die Kleidungsstücke vom Leib, wirbelt sie durch die Luft und wirft sie ins Publikum. Mit ihrem Striptease treibt sie zu expliziter Sichtbarkeit, was ihre Konkurrentinnen tun, ohne freilich dazu zu stehen – das wäre schließlich gegen jedes comme il faut. Dem Film gelingt dadurch jene glückliche Form der Kritik, die affirmativ überbietet, was es bloßzustellen gilt. Zugleich bleibt eine merkwürdige Ambivalenz. Schließlich wird das Publikum genötigt, einer Siebenjährigen beim Strippen zuzuschauen. Auch wenn bei der roten Spitzenunterhose Schluss ist: Für die Dauer dieser ambiguen Szene ist „Little Miss Sunshine“ kühn genug, die Begrenzungen des Feelgood-Movies zu überschreiten.

„Little Miss Sunshine“. Regie: Jonathan Dayton, Valerie Faris. Mit Toni Colette, Greg Kinnear u. a., USA 2006, 100 Min.