: Lackaffe, Hornochse, Hasenfuß, blöde Kuh
ERKENNEN Kinder können oft nicht sagen, was in der Familie schiefläuft. Aber sie können es zeichnen
A Der Vater thront, einem Pascha ähnlich, als Kater über die unter ihm gezeichnete Mutti als Reh, Mami als Stier und Beate als Einhorn. Es sind demnach zwei Mütter vorhanden. Das Einhorn ist ein Märchentier – existiert also gar nicht wirklich. Die Mami steht über Beate und trennt das Mädchen vom Vater, die Mutti steht am Rand. Die drei Figuren unter dem Kater bewegen sich in eine Richtung, der Mami-Stier schaut nach unten auf das Einhorn, die Mutti rennt den beiden hinterher. Der überproportional große Kater blickt gutmütig auf die drei. Zum einen strahlt er eine erdrückende Dominanz aus, zum anderen unentschlossenes Phlegma.
Die häusliche Situation stellt sich so dar: Beates Eltern sind geschieden. Das Mädchen lebt mit Vater und Stiefmutter (Mami). Der Vater konnte sich von Beates Mutter emotional nicht lösen, Beate weiß nicht, dass ihre Eltern geschieden sind. Die Stiefmutter ist eine resolute, strenge Frau, die leibliche Mutter von Beate (Mutti) dagegen ist Tänzerin. Beate möchte auch Tänzerin werden. Um der ungeklärten Familiensituation zu entkommen, flüchtet sich Beate in Tagträume.
VON BETTINA SCHÖTZ UND WALTRAUD SCHWAB
Ochs, Esel, Schaf – Tiere sind Zeugen der Geburt Jesu im Stall von Bethlehem. Zufällig stehen sie nicht da. Der Ochs verkörpert die Juden, da diese unter dem Joch der halachischen Gesetze stehen. Der Esel symbolisiert das Heidnische. Ochs und Esel sind abfällig gemeint. Es geht darum, klarzumachen, wer den richtigen Glauben hat: nämlich die Christen. Die Schafe indes tauchten erst später bei der Krippe auf, als die Sache mit der Geburt Jesu anfing, kitschig zu werden. Einem Schaf wird nachgesagt, dass es friedlich sei und opferbereit. Auch langweilig und dumm.
B Helmut zeichnet sich zuerst, und zwar als Schmetterling. Seinen Vater und seine Mutter zeichnet er jeweils als Raupe und stellt sie in einer Reihe hinter sich. Die Familie wird durch gleiche Tiere dargestellt, die sich aber in verschiedenen Stadien der Entwicklung befinden. Der Junge ist als fertiger Schmetterling im reifsten Stadium, obwohl es der Generationenfolge entsprechend umgekehrt sein müsste. Es fällt auf, dass jedem Tier ein abgegrenzter Raum auf dem Papier zugebilligt wird. Der Raum für den Jungen ist am größten. Der Schmetterling hat eine Vorrangstellung, ist aber isoliert.
Hintergründe: Die Eltern führen eine Bäckerei. Ihr einziges Kind überlassen sie dem Personal. Der Junge ist verwöhnt und darf sich entsprechend gebärden. In der Schule erkämpft er sich Aufmerksamkeit durch Stören. Auf diese Weise holt er sich die Anerkennung, die ihm sonst fehlt.
Den Eltern müsse deutlich gemacht werden, meint die Psychologin Luitgard Brem-Gräser, dass das Kind nicht nur materielle Versorgung, sondern auch altersgerechte Annahme braucht – dies schließt altersgerechte Anforderungen ein.
Menschen, dargestellt als Tiere – es ist ein altes Spiel, in dem der schlaue Fuchs, die fleißige Biene, das Lamm Gottes, der Heuschreckenkapitalist vorkommen. Auch schimpfen lässt es sich gut: dumme Gans, Frechdachs, Lackaffe, Dreckschwein. Abgeleitet vom Wesen der Tiere, werden die Eigenschaften auf die Menschen übertragen. Das Tier ist neutral, die Interpretationen der Menschen ist es nicht.
Schon Kinder wissen, dass Tieren Eigenschaften zugesprochen werden, die auch Menschen kennzeichnen können. Diesen Umstand machte sich die Psychologin Luitgard Brem-Gräser zunutze, als sie vor sechzig Jahren in der Erziehungsberatung mit einem Jungen konfrontiert war, der aus der Sicht von Lehrern und Eltern ein Versager war. „Er wollte nicht sprechen“, erzählt Brem-Gräser am Telefon. Da bat sie ihn, einem spontanen Einfall folgend, seine Familie wie im Märchen als Tiere zu malen. Der Junge zeichnete sich als Laus im Fell seines als Löwe daherkommenden Zwillingsbruders. Brem-Gräser ist über neunzig Jahre alt und gibt eigentlich keine Interviews mehr. „Es steht alles in meinem Buch.“
C In diesem Bild sind alle fünf Personen um einen Tisch gruppiert. Der Vater als Pferd, die Mutter als Stute, die Schwester als Katze, der Bruder als Fuchs und der Junge, Gustav, als Schwein. Vater und Mutter gehören derselben Tierart an, Bruder und Schwester als Fuchs und Katze sind sich ähnlich. Vater und Bruder haben das Szenario im Blick. Gustav sitzt in der Mitte, der Mutter am nächsten und hat als Einziger den Mund offen. Es sieht aus, als schreie er oder als schnappe er nach Luft. Die Strichführung, die ebenfalls in die Auswertung einfließt, ist bei dieser Zeichnung kaum kontrolliert und wenig kraftvoll. Gustav achtet nicht darauf, wie er selbst wirkt.
Gustav ist Asthmatiker. Als er sechs Jahre alt ist, lassen sich seine Eltern scheiden. Eineinhalb Jahre später heiratet die Mutter ihren jetzigen Mann, der zwei Kinder in die Familie bringt. Der Stiefbruder ist kaum älter als Gustav, ihm aber in allem überlegen. Gustav ist kränklich und war Bettnässer – gelegentlich nässt er immer noch ein. Deshalb nennen ihn seine Geschwister auch Schwein. Die Konkurrenz mit seinen Geschwistern belastet sein schwaches Selbstwertgefühl zusätzlich.
Überrascht von der deutlichen Bildsprache des Jungen, hat Brem-Gräser daraufhin den Test „Familie in Tieren“ entwickelt. Er wird bis heute in der psychotherapeutischen Arbeit mit Kindern bis etwa ins Teenageralter eingesetzt – als eine von mehreren Methoden, die Problemlage des Kindes zu erkennen. Ihr Buch ist ein Klassiker, obgleich die Sprache mittlerweile antiquiert klingt. Bald kommt die zehnte Auflage heraus.
Brem-Gräser hat umfangreiche Forschungen zu „Familie in Tieren“ gemacht. So wurden zweitausend Schulkinder gebeten, je drei Tiere zu zeichnen, um herauszufinden, welche Tiere in der Lebenswelt von Kindern eine Rolle spielen. Mit großem Abstand landete die Schlange auf dem ersten Platz, gefolgt von 55 weiteren Spezies. Zwei Wochen später sollten die Kinder ihre Familie in Tieren zeichnen. Auffallend ist, dass sich die Zahl der Tierarten verdoppelt hatte. Die Charaktereigenschaften der Menschen wurden durch die Vielfalt der verwendeten Tiere ausdifferenziert. Spitzenreiter für die Vaterdarstellung ist der Elefant, für die Mutter ist es der Vogel und für die Geschwister die Schlange. Jungen zeichnen auch sich selbst am häufigsten als Schlange, während es bei Mädchen der Vogel ist.
D Zuerst zeichnet Yumiko den Vater als Elefanten. Mit Abstand kommt die Mutter als Widder. Sie schirmt Yumiko ab, die sich als Hund zeichnet und selbst versucht, ihre jüngere Schwester, eine Katze, auf Abstand zu halten. Der Elefant ist proportional kleiner als der in Abwehrhaltung verharrende Widder. Auffallend ist, dass die Tiere bekleidet und so vermenschlicht sind. Das Mädchen entwickelte ab der fünften Klasse Brustschmerzen, für die kein medizinischer Grund vorlag und die sie am Schulbesuch hinderten.
Hintergründe: Yumiko war ein schwaches Kind, das viel Aufmerksamkeit brauchte. Der Vater ist zehn Jahre älter als die Mutter und arbeitet viel. Die Ehe ist distanziert. Die Mutter ist dominant, aufbrausend und einschüchternd. Auch die Schwester ist lebhaft und damit bedrohlich. Ab der fünften Klasse begann Yumiko sich aus dem Schatten der Mutter zu bewegen, aber es ging nicht. In der Spieltherapie gewann sie Selbstvertrauen, konnte der Mutter standhalten und sich dem Vater annähern.
■ Abbildung und Erläuterungen zum Fall D basieren auf Informationen von Yuko Iguchi, Tokio
Bei der therapeutischen Auswertung der Bilder, die die Kinder malen, sind nicht nur die dargestellten Tiere von Bedeutung. Wie die Tiere auf dem Blatt angeordnet sind, welche Figur zuerst gezeichnet wird, wie die Zuordnungen und Ähnlichkeiten sind, wie der Strich ist, alles fließt in die Betrachtung mit ein.
E Für alle vier Personen wurde das gleiche Tier gewählt – ein Schäferhund. Der ist für seine Wachsamkeit bekannt, aber auch für die Angst, die er, da wolfsähnlich, einflößen kann. Alle vier Hunde trotten hintereinander her. Vater und Mutter sind sich etwas näher als die danach kommende Schwester, die aber so groß wie die Eltern ist. Es fällt auf, dass von Rosemarie selbst am Rand nur der Kopf zu sehen ist. „Jetzt pass ich nicht mehr hin“, soll sie gesagt haben. Einen anderen Platz auf dem noch viel Raum bietenden Papier nimmt sie sich jedoch nicht. So drückt sie ihre Vorstellung von und Sehnsucht nach gleichberechtigter Gruppenzugehörigkeit aus.
Diese Zeichnung ist ein frühes Beispiel aus der Sammlung von Luitgard Brem-Gräser. Rosemaries Vater war Soldat im Krieg und lernt das Mädchen erst kennen, als es drei Jahre alt ist. Er lehnt das Mädchen ab, es sei ihm nur im Weg gewesen. Auch wird das Mädchen geschlagen, wenn es nicht spurt. Die ein Jahr nach seiner Heimkehr geborene Schwester vergöttert der Vater hingegen. Rosemarie erlebt sich nicht als zugehörig, sucht sich aber Gleichaltrige, mit denen sie herumzieht.
Der Test ist international bekannt. Die in Tübingen ausgebildete Yuko Iguchi arbeitet seit dreißig Jahren als Psychotherapeutin mit Kindern in Tokio. Sie hat untersucht, mit welchen Modifikationen der Test auf den japanischen Kulturkreis übertragen werden kann. Bei ihren Forschungsreihen mit achthundert Kindern hat sich gezeigt, dass auch die Kinder in Japan ihrem Vater starke Tiere zuordnen, statt des Elefanten steht hier aber der Bär an erster Stelle. Die Mutter wird am häufigsten als Hase dargestellt. Sich selbst sehen die meisten Jungen als Affen und die Mädchen als Katzen. Auffallend ist, dass die Schlange kaum vorkommt. „Die Schlange wird negativ gesehen. Sie flößt Furcht ein. Und sie kann einen Kreis formen mit ihrem Körper“, sagt Iguchi. Der Kreis sei das Vollkommene. Deshalb sei es schwer, sich die Schlange als Mensch vorzustellen. Auch typische Störungen bei den Kindern unterschieden sich, erzählt sie. In Japan gebe es sehr viele Schulverweigerer, während ihr in Deutschland die vielen essgestörten Jugendlichen auffielen. Den Test setzt Iguchi bei der ersten Begegnung mit dem Kind ein, weil Zeichnen für viele einfacher sei als zu sprechen.
F Der Vater als Löwe, die Schwester als züngelnde Schlange und der Bruder als Affe stehen auf einer Ebene. Vater und Schwester sind in Konfrontation miteinander. Der Löwe sieht gutmütig aus, steht aber in Sprunghaltung. Der Bruder scheint sich hinter der Schwester zu verstecken und ist auf der vertikalen Ebene mit der nicht gezeichneten Mutter verbunden. Unter diesem Trio zeichnet sich Erika selbst als verträumte Ziege auf einer Ebene mit der abwesenden Mutter.
Die häusliche Situation stellt sich so dar: Erika ist das mittlere Kind. Ihre drei Jahre ältere Schwester ist behindert, bekommt und verlangt alle Aufmerksamkeit von den Eltern. Erika war unerwünscht. Als sie klein war, konnte sich die Mutter nur wenig um sie kümmern. Sie wurde ständig zu Nachsicht und Rücksichtnahme angehalten. Der Vater ist die Autorität in der Familie, die Mutter ist still und besorgt, der jüngere Bruder wird von allen gemocht. Die behinderte Schwester wird vom Vater als sehr egozentrisch beschrieben. Auch der Bruder gilt als lebhaft, Erika hingegen ist eigenbrötlerisch, aber auch wehrhaft (zickig) – dies zeigt sie durch ihre Selbstdarstellung in der Zeichnung.
Der Test gilt als projektives Verfahren – eines, das das Unbewusste als aussagekräftige Größe akzeptiert. In der Kognitionspsychologie ist das umstritten. Iguchi sieht solche Zweifel aus japanischer Sicht gelassen. „Das Unbewusste wurde benannt. Man kann nicht mehr dahinter zurück.“ Sie wird auf andere Art herausgefordert: In Japan sei die Psychotherapie ein Experimentierfeld, das Kriterien, die in Europa entwickelt wurden, auf die japanische Wahrnehmung übertragen müsse. Der Ödipuskomplex etwa werde anders wahrgenommen in Japan, da die Mutter in Bezug auf die Kinder auch vom Vater eine dominante Rolle zugewiesen bekomme.
Ob der Test als weihnachtliches Gesellschaftsspiel taugt, lässt sich nur schwer sagen. Es geht eine Faszination von ihm aus, allerdings merken Erwachsene sofort, dass sie möglicherweise versteckte Gefühle für Familienmitglieder offenlegen, wenn sie sich darauf einlassen. Wer ist der Ochs? Wer der Esel?
■ Luitgard Brem-Gräser: „Familie in Tieren“. Reinhardt Verlag München. Die Abbildungen A, B, C, E, F sind dem Buch entnommen, ebenso basieren die Zusammenfassungen der Fälle darauf