piwik no script img

Archiv-Artikel

In der Zwischenzeit

Die Erfindung der Afterhour als Ort von Glück und Schönheit: „Songs For The Gentle“, das Debütalbum von MyMy, einem Berliner Produzententrio

VON ALEXIS WALTZ

Die Pointe von House und Techno lag schon immer darin, dass nicht nur Freitag- und Samstagnacht gefeiert wurde, sondern das ganze Wochenende. In den letzten Jahren hat sich besonders in Berlin, aber auch in Städten wie Zürich, Frankfurt oder Barcelona ein Musikstil entwickelt, der besonders auf jene Zwischenzeiten gerichtet ist, die sogenannten Afterhours. Der Don dieser Szene und der Haupterfinder des Stils ist Ricardo Villalobos, neben ihm gehören Matt John, Troy Pierce oder Jay Haze zu den herausragenden Produzenten. Diese zerfallende, brüchige Musik lässt die Strenge und die Linearität der Clubmusik hinter sich, sie ist inhaltsreich und erzählerisch, man kann das stundenlange Tanzen erleben wie eine Reise.

Diese Reise hat ebenso wenig mit der stundenlangen, gespannten Hochkonzentration von Techno zu tun wie mit der überschäumenden Champagnerlaune von House – vielmehr ist sie introspektiv, ins Innere gerichtet und kann ziemlich düstere und bedrohliche Momente haben. Auch MyMy aus Berlin nehmen diesen Musikstil auf ihrem Debütalbum „Songs For The Gentle“ auf, entwickeln aber eine positive, sonnige, verspielte Version davon. Lee Jones, ein Drittel von MyMy, kommentiert: „Für mich ist der Afterhour-Sound zu düster, zu unheimlich geworden. MyMys Musik richtet sich nicht an Hardcore-Raver, sondern an Leute, die ein Gespür für das Emotionale in der Musik haben.“

MyMy ist das gemeinsame Projekt der DJs Carsten Kleemann und Nick Höppner und des Produzenten Lee Jones. Carsten Kleemann arbeitet bei Dubplates & Mastering in Berlin, dem maßgeblichen Studio, wo europäische Techno- und Houseproduzenten ihre Platten mastern lassen. Nick Höppner war Redakteur des Clubmusik-Magazins Groove. Lee Jones hat als Hefner zwischen 1997 und 2002 eine Serie von Platten produziert, deren souverän inszenierter Stilmix zwischen Funk, Soul, Reggae, Pop und elektronischer Musik besonders von Nu-Jazz-Fans geschätzt wurde. Immer wieder überraschte er mit seinen souveränen Kompositionen und dem geschmackssicheren Einsatz akustischer Instrumente.

Der Umzug von London nach Berlin und das Zusammentreffen mit Kleemann und Höppner löste eine musikalische Neuorientierung aus. Kleemann: „Als Erstes sagten wir ihm: Du musst jetzt mal was ganz anderes machen, Nu Jazz und so was, das geht ja gar nicht.“ Bald veröffentlichten sie auf dem Frankfurter House-Label Playhouse eine Serie erfolgreicher EPs. Bei dem Album überwiegt Jones’ Anteil an der Produktion, die DJs erzeugen Input und stellen Kontexte her. Kleemann: „Der vom Hiphop stammende Crew-Gedanke, eine Gang zu haben, ist reizvoll und vorteilhaft.“

Die „Songs For The Gentle“ fügen sich bestens in den Flow der aktuellen Dance Music ein: In seiner formvollendeten und eleganten Produktion erinnert das Album an Tracks von Alex Smoke oder Robag Wruhme, das an Soul und Jazz geschulte musikalische Schönheitsideal an Produktionen von Henrik Schwarz. Die Stücke sind harmonisch stimmiger als die oftmals roughen, zerfahrenen Afterhour-Tracks anderer Produzenten. MyMy produzieren eine offene, spielerische Musik, die trotzdem niemals chaotisch oder verloren klingt. Deutlich spürt man Jones’ Erfahrungen mit klassischer Musik und Jazz: Wo andere mit Sounds und Melodien experimentieren, komponiert er.

Die Überraschung des Albums liegt in der Fusion des aktuellen Afterhour-Stils mit Jones’ souveränem Eklektizismus. Wenn beim Minimal-Sound die Klarheit, Abstraktheit und Autarkie von Punk Pate war, werden hier die anderen Siebzigerjahre als Bezugspunkt wichtig: der Reichtum der Musik erinnert an Jazz-Rock, Jones erwähnt Barbara Streisand oder Elton John. Er mache filmische Musik, erklärt er: „Es sind diese träumerischen, aber nicht irrealen Stimmungen, die mich interessieren.“ In Maja Classens Dokumentarfilm „Feiern!“ berichtet Jones vom Blick aus der Berliner Bar 25, einem klassisch-kaputten Afterhours-Laden, auf die verregnete Spree: Solche Momente materialisieren sich in „Songs For The Gentle“.

My My: „Songs For The Gentle“ (Playhouse/Neuton)