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Archiv-Artikel

Kassiber und Karnickel

LITERATUR Der Wagenbach-Verlag feiert sein 50-Jähriges mit einer geschichtsprallen Ausstellung in der Staatsbibliothek

Das Kaninchen als Hauswappentier steht für die schnelle Vermehrung von Wissen

VON NINA APIN

Anekdoten, Räuberpistolen, Erinnerung an vergangene Schlachten. Nichts Geringeres erwartet man, wenn eine linksalternative Legende wie der Wagenbach-Verlag 50. Geburtstag feiert. Die Verlagsleiterin Susanne Schüssler, die zum geführten Rundgang durch die Ausstellung in der Staatsbibliothek empfängt, will aber erst mal über die Gegenwart reden: An die jungen Leser, die massenhaft die Stabi bevölkern, will man ran. Und hat deshalb Löcher in die Decke gebohrt. Traubenweise hängen nun die Wagenbach-Bücher herab, von Boris Vian bis Erich Fried, von „Pornotopia“ bis „Das Leben des Michelangelo“. Ein Angebot.

„Es gibt“, sagt Schüssler und rückt sich die rahmenlose Brille auf der Nase zurecht, „zweierlei Arten von Verlagen. Diejenigen, die Bücher machen, von denen sie glauben, dass die Leser sie lesen wollen. Und diejenigen, die Bücher machen, von denen sie glauben, dass die Leser sie lesen sollen. Wir gehören zur zweiten Art. Bis heute.“

Als das geklärt ist, kommen sie doch, die Anekdoten, chronologisch in Vitrinen präsentiert: die Anfänge als Ost-West-Verlag, mit Werken von Ingeborg Bachmann und Stefan Hermlin im Schulheftformat. Dazu eine Single mit Biermann-Liedern: „Drei Kugeln auf Rudi Dutschke“. Das ging nicht lange gut, Wagenbach musste schon bald ohne die DDR-Autoren weitermachen.

Es folgten die wilden Siebziger. Damit, so Schüssler, hätte man locker sieben Vitrinen bestücken können. Es sind aber doch nur zwei, die alles Wesentliche erzählen. Mit der „Grips-Parade“ auf Schallplatte („15 fröhliche Lieder zum Mitsingen“) stattete Wagenbach antiautoritäre Haushalte mit dem passenden Soundtrack aus.

Neben die hedonistische Leichtigkeit im Programm gesellte sich schon bald der ganze Ernst des „politischen Kampfes“: Bei Wagenbach erschienen die Schriften Ulrike Meinhoffs und das RAF-Manifest „Über den bewaffneten Kampf in Westeuropa“. Das Exemplar in der Vitrine ist eine Rarität – die Auflage wurde aus dem Verkehr gezogen und durfte nur mit von Häftlingen vorgenommenen Schwärzungen erscheinen, worauf der Aufkleber „Edition Tegel“ hinweist.

Überhaupt geriet der Wagenbach-Verlag, der zeittypisch im Kollektiv organisiert war, ständig zwischen die Fronten: verfolgt von der Springerpresse und den Strafverfolgungsbehörden einerseits – worauf zahlreiche Gerichtsakten hinweisen – und dann auch von den mittlerweile untergetauchten Terroristen. Ein „Kassiber“, ein maschinengeschriebener Zettel voller Drohungen aus dem Knast von Gudrun Ensslin, bezeugt eindrücklich, wie die RAF versuchte, das Erscheinen von Peter Brückners Meinhoff-Biografie zu verhindern. Klaus Wagenbach muss Angst gehabt haben, das zeigt der eiserne Schlagring seines Urgroßvaters, den er stets bei sich trug. Erschienen ist das Buch trotzdem.

Ein „Spendentagebuch“ von Katia Wagenbach bezeugt den Überlebenskampf des Verlags, den horrende Prozesskosten an den Rand des Ruins brachten. 1973 zerbrach das Kollektiv, ein Teil spaltete sich als Rotbuch Verlag ab.

In den Achtzigern entdeckte man die Postmoderne – und Italien. Bis heute ist Wagenbach der wichtigste deutsche Verlag für Bücher aus Italien. In den Achtzigern entstand auch die legendäre Salto-Reihe: schmale, in knallrotes Leinen gebundene Bändchen, unter Bibliophilen heiß begehrt. Bis heute werden die Etiketten per Hand aufgeklebt. Dem Handwerkszeug für die Herstellung sind eigens zwei Vitrinen gewidmet. An dem Stolz, mit dem Susanne Schüssler diese Objekte präsentiert, lässt sich erkennen, wie wichtig, aber auch kaufmännisch mutig dieses Festhalten am Edlen ist. Denn elitär mag man bei Wagenbach nicht sein: Das schöne Buch muss erschwinglich für alle bleiben.

Dass das Taschenbuch seit den „Quartheften“ der Gründerjahre zum Programm gehört, davon zeugen unzählige Kaninchenfiguren in den Vitrinen.

Das Kaninchen als Hauswappentier steht für die schnelle, unkontrollierbare Vermehrung von Wissen. Ein gezeichnetes „Karnickel-ABC“ an einer Säule im Foyer führt humoristisch durch die Verlagsvergangenheit, vom „Vielfaltkarnickel“ („Die Linke und das Individuum“) bis zum „CasparDavidFriedrichnickel“ („Natursehnsucht und Liebesleid. Romantische Gedichte“).

Exemplarisch lässt sich das Erschwinglichkeitsgebot an der „Edition Georgio Vasari“ ablesen: kunsthistorische Biografien von italienischen Renaissancekünstlern – im Taschenbuchformat. 2015 wird die Reihe mit 45 Bänden abgeschlossen sein. Ein verlegerisches Mammutwerk. Und kaufmännisch etwas verrückt. Wie das Herausgeben des opulenten, zweibändigen Opus magnum „Die Stadt im 20. Jahrhundert“ von Vittorio Lampugniani für schlappe 128 Euro.

Mut und Leidenschaft statt Kalkül. So umreißt Schüssler, die 2002 die Verlagsleitung von ihrem Mann Klaus Wagenbach übernahm, ihre Position. Sie erzählt, dass bis heute sämtliche Lektoratsentscheidungen im Konsens getroffen werden. Und dass man bei den Sitzungen auch schon mal die „Herzkarte“ zücke – mit der ein Titel, von dem die Kollegen rational nicht überzeugt seien, von der Begeisterung Einzelner ins Programm gehoben würden. Welche Titel ihr Erscheinen der Herzkarte verdanken, verrät sie nicht.

Und heute?

Argentinien, Brasilien, Mexiko. Immer noch Italien. Ein bisschen E-Book, aber nicht zu viel. Die Wiederbelebung der Politik-Reihe. Und Autoren, die zwischen den Kulturen wandeln.

Das alles mit zwölf Mitarbeitern. Und dem Anspruch, der „unabhängige Verlag für wilde Leser“ zu bleiben, der sein Publikum zum Denken erziehen will. Nicht umsonst prangt für die Dauer der Ausstellung auf dem Boden der Staatsbibliothek ein Zitat von Erich Fried: „Wer will, dass die Welt so bleibt, wie sie ist, der will nicht, dass sie bleibt.“

■ Die Ausstellung in der Staatsbibliothek, Potsdamer Str. 33, läuft noch bis zum 12. Juli