piwik no script img

Archiv-Artikel

Mensch, Jochen!

Er ist jetzt 53, Entsetzen überfällt ihn bei dem Gedanken. Die Tage, die Nächte verbringt er in einem Sessel vor dem Fernseher oder Radio. Seit Jahren schon. Sein Leben kommt nicht von der Stelle. Die toten Eltern wollen es so

Von THOMAS FEIX (Text) und OLIVER SPERL (Illustrationen)

Wenn er nur mit dem Rauchen aufhören könnte. Wenn er mit allem aufhören könnte. Mit dem Glotzen in die Röhre, mit der Grübelei. Mit dem Umhertigern in der Wohnung, die sein Käfig ist. Wenn er nur mit dem Leben aufhören könnte, das er führt.

Die Flasche Wein ist was anderes. Die trinkt er in kleinen Schlucken, nachts, wenn das Radio an ist. Ansonsten achtet er nicht auf den Genuss. Jochen zieht den Rauch der Zigarette ein, als würde er nach Luft ringen. Das beruhigt ihn für den Moment.

Wenn er sich nur nicht so verflucht endgültig eingerichtet hätte in diesem Leben. Es siecht dahin wie die Topfpflanze, die auf dem Fenstersims steht. Überwindet keinen Widerstand, hinterlässt keine Spur. Ist wie ein ewiger Zustand. Ohne Anfang, ohne Ende. Einschläfernd wie der Tod, wenn er da ist.

Es ist September, Spätsommer in Berlin. Manchmal sieht Jochen noch den Morgen heraufdämmern, wenn er schlafen geht. Er hat dann zehn Stunden Fernsehen hinter sich und sechs Stunden Radio. 40 bis 60 Zigaretten, Marke „Auslese“, 100 Millimeter, dazu drei Liter Saft, Orangensaft. Wer viel raucht, soll viel trinken, hat er gelesen. An seine Lunge mag er nicht denken, lieber nicht. Wahrscheinlich ein schwarzes Loch, wahrscheinlich beide Flügel. Er sagt, er ist dabei, das Leben aufzurauchen, das er noch vor sich hat.

Es ist noch nicht ganz weg. Noch ist was da. Nicht viel, nicht die wildesten Jahre. Auch nicht die besten. Sie liegen hinter ihm, und wild und gut sind sie nicht gewesen. Komisch waren sie, immer in Not, immer am Abgrund, ein Jahr wie das vorangegangene. In seinem Alter halten andere Enkel auf den Knien. Es ist ein starres Entsetzen, das ihn befällt, bodenlos, als er sagt, ich kann es nicht fassen, dass ich schon Anfang fünfzig bin. So kläglich, so nackt klingt das, dass einem für den Augenblick der Atem stockt.

Mit Anfang zwanzig gefiel sich Jochen in der Pose des alten, weisen, weltabgewandten Denkers. Sprayte sich die Haare grau ein, kämmte sie zurück, legte die Stirn in Falten. Eine Einstein-Karikatur. Eine Trotzreaktion. Wie bei anderen mit ihrem Gruftie- und Punkgetue. Im Bücherschrank stehen Freud, Marx, Nietzsche, Sartre, Fromm, Bloch. Keine Belletristik. Vergilbte, dreißig Jahre alte Taschenbuchausgaben. Er liebt große Themen, Anthropologie, Wirtschaft, Ernährung, Philosophie. Bücher wie „Kampf der Zivilisationen“ von Jared Diamond. Warum nicht das Kleine? Warum nicht Romane, Erzählungen, Novellen? Er sagt, er wollte wissen, was das für eine Welt ist, in der er lebt. Wer will das nicht. Er sagt, er wollte wissen, wer er ist. Daher die Themen, planlos, uferlos. Weiß er, wer er ist? Jetzt, mit 53?

Er zeigt ein Foto von sich, von vor dreißig Jahren, ein Passfoto, er zeigt es stolz. Ein markantes Gesicht, der Blick offen, unschuldig, die Brillengläser sehen dick aus. Er hatte es mit Studieren probiert, gleich nach dem Abitur, Chemie. Er dachte, das wäre was. Was mit Aussicht. Nach zwei Semestern in fünf Jahren war Schluss. Keine Lust mehr, zu anstrengend, zu profan, keine Ahnung, nicht sein Ding irgendwie. Lieber dem Gedankenfluss seinen Lauf lassen. Jochen ist in dieser Haltung erstarrt, seit dreißig Jahren. Das Ideal des Vor-sich-hin-Brütenden, des Danebenstehenden.

Er hat mal fotografiert, früher. Häuserfronten, Schatten, Pfützen, Baukräne, Treppen, Autokotflügel vorne und hinten. Tote Dinge. Sogar die Bäume, die mit auf den Bildern sind, sehen tot aus, die Äste kahl, der Himmel wie verstrahlt. Keine Bewegung, kein Leben, eine Stimmung wie nach dem Super-GAU. Er sagt, es war das Grafische, das ihn interessierte, die Struktur, die Systematik, die hinter dem Lebendigen steckt. Ein großes, schönes Thema. Wer weiß, vielleicht ist er ein Genie, und keiner hat es bisher bemerkt. Auch er nicht.

Jochen erwähnt nicht einen einzigen Freund, kein Mädchen, keine Frau. Kein menschliches Wesen, das freundlich zu ihm gewesen wäre oder es ist. Seltsam, auch kein Tier, Hund, Katze, Wellensittich. Keine Namen, Leidenschaften, Ereignisse. Keine Affären, keine Reisen, keine Sehnsucht. Nichts, was er mit dem Lächeln eines Schwerenöters und Genießers erzählen könnte, den Blick ins Weite, Helle gerichtet. Sein Reden und Denken kreist um die Eltern, um nichts anderes. Düster, zwanghaft, präzise. An Vater und Mutter peitscht er sich hoch. Und bricht dann wieder zusammen. Sie sind alles, was er hat. Er will nicht wissen, dass es so ist. Weil es nicht vorangeht mit ihm. Weil es nie vorangegangen ist mit ihm.

Ich bin ein Trottel, sagt er. Ein Hansel, nichts wert. Zu seinem Vater fällt ihm ein, er war ein Witz, ein Verrückter, ein Alfred Tetzlaff zum Quadrat, er ist an allem schuld. Und Mutter sowieso. Redet er von ihr, gleicht er selbst einer Kunstfigur. Norman Bates, erregt, fahrig, gefährlich. Eine Sadistin, sagt er, sie hat mich runtergemacht, ständig. Die ewige Klage, er beißt sich auf die Unterlippe. Wohl niemand möchte in diesem Augenblick in seiner Haut stecken. Wohl nicht einmal er selbst. Sie sind tot, beide, der Vater, die Mutter. Sie seit zwei Jahren, er seit fünfundzwanzig Jahren. Sie haben Jochen, ihrem einzigen Kind, Geld hinterlassen. Gerade genug, dass er das Dasein eines Müßiggängers führen kann. Seit einer Ewigkeit. Ohne Ziel, ohne Pflichten, ohne die Gier nach Leben. Vor allem ohne das Gefühl für Zeit. Aber das ist es gerade. Jochen lässt sie nicht ruhen. Wie Untote geistern sie durch seine Grübeleien. Sie sind Angeklagte, sie sollen es sagen: warum er ein Tagträumer geworden ist, ein Tagedieb, ein Taugenichts. In Strickjacke und Karohemd. Mit zerzausten Haaren, unrasiert, in Socken, die zerrissen sind, und ohne Hausschuhe. Eine kleine Hornbrille auf der Nase, viel zu klein für den verbohrten Schädel.

Mit Hass und Hohn verfolgt er die Alten, reißt sie aus dem Jenseits, tagtäglich, er glaubt, sogar im Schlaf tut er es. Er denkt nicht daran, seinen Frieden mit ihnen zu machen und die Frage nach dem Warum an sich selbst zu richten. Sie haben ein Leben auf dem Ge-wissen, sagt er. Meins. Und erzählt die Geschichte mit der Frisur. Es muss so ein Nazihaarschnitt gewesen sein, jedenfalls ein Topfschnitt. Über den Ohren und am Hinterkopf ausrasiert, oben eine alberne kleine Tolle. Und das Ende der Sechziger, Anfang der Siebziger. Als die Haare immer länger wurden, Symbol der Freiheit, sie konnten nicht lang genug sein. Und Jochen, der Pubertierende, lief herum mit einem Schädel wie Diederich Heßling aus „Der Untertan“. Da ist der Irre mit seiner Frisur, sagten die Mitschüler. Lange Haare, kurzer Verstand, sagte der Vater.

Und Jochen unterwarf sich, jedes Mal, und die Mutter gab die fünf Mark für den Frisör. „Es war ein unausgesprochenes Komplott. Sie wollten nicht, dass ich erwachsen werde, selbstständig, frei. Sie haben es geschafft.“ Er sagt, ich hätte Philosophie studieren sollen, Sozialpädagogik, Soziologie, Politik. Es war die Zeit damals, APO-Zeit, alle haben so was studiert, warum ich bloß Chemie? Er sagt, das ist auch so was. Etwas, was mit den Eltern zu tun hat.

Wann beginnt die Verantwortung für das eigene Leben? Mit dem ersten Liebesschwur, dem ersten Arbeitslohn, der ersten Wohnung? Oder mit dem Tod der Eltern? Wenn es diese Momente sind, dann hat Jochen sie alle verpasst. Er wollte sie verpassen. Auch den letzten, den vor allem. Es stimmt, er hat nie Geborgenheit erlebt. Keine Beständigkeit, kaum Zuneigung. Wie sollte er da selbst Beständigkeit entwickeln, Zuneigung. Die Eltern verzehrten sich im Streit. Es war der Kummer beider über ein Leben, das ihre Ansprüche nicht erfüllte. Ließen sich scheiden, Jochen war neun, 1962. Danach bekam keiner von beiden mehr Boden unter die Füße. Der Vater nicht, die Mutter nicht. Und Jochen dazwischen, hin- und hergezottelt, er fühlte sich im Abseits, nutzlos, ohne Aussicht auf irgendwas. Ein ängstliches Kerlchen, von Natur aus, er ist es geblieben, es ist anrührend, ihn vor sich zu haben. Er suchte Anlehnung, Anerkennung, ein Zentrum. Andere finden einen Weg dahin. Oder er wird ihnen gewiesen. Jochen hatte diese Chance nicht.

Die Eltern gehörten zur Aufbaugeneration. Zu denen, die den Krieg erlebt hatten, den Zusammenbruch. Und sich dann am eigenen Schopf aus den Trümmern zogen. Jochens Eltern haben das Haus selbst gebaut, das sie besaßen. Stein für Stein, sie schafften sie in einem Handwagen heran. Wohlstand, Glück und eine gesicherte Zukunft wollten sie. Aus der Musterfamilie wurde nichts, sie stellten materielle Sicherheit und gesellschaftlichen Status über gegenseitige emotionale Fürsorge. Und standen dann den Folgen der Scheidung hilflos gegenüber.

Der Vater blieb im Haus, die Mutter zog mit Jochen aus. Wie ein Maulwurf wühlte der Vater sich ein. Von den vier Zimmern bewohnte er bald nur noch das kleinste, aus innerer Unbehaustheit und um Heizkosten zu sparen. Er verkraftete die Scheidung nicht, er konnte nicht mit Niederlagen umgehen, er hatte immer was Besonderes sein wollen, Genie, Erfinder, Entdecker. Und war nun nur ein Frührentner, wegen der Tuberkulose aus dem Krieg, und einsam. Jochen ging oft zu ihm, der Sohn zum Vater. Nahm vieles von ihm an. Das Unnahbare, die Attitüde des Denkergreises, die Minderwertigkeitskomplexe. Auch wenn ihm manches am Vater zunehmend suspekt wurde. Wie die Theorie vom Zungenbelag, der die Ursache aller Krankheiten und daher täglich mit der Zahnbürste zu entfernen sei. „Zungenbelag, Candida albicans – nie werde ich dieses Wort vergessen. Einmal habe ich versucht, meine Zunge zu putzen, wie er es verlangte. Dauernd kam ich an das Zäpfchen und hätte fast gekotzt. Da stieß die Loyalität zu meinem Vater an eine physische Grenze.“

Die Mutter fühlte sich alt, verbraucht, sie hatte stets eine Dame von Welt sein wollen, und jetzt suchte sie einen neuen Mann, einen, den sie vorzeigen konnte, und griff doch wahllos zu. Sie fing zu trinken an, abends, nach der Arbeit; samstags trank sie durch. Als er zwölf war, schickte sie ihn aufs Internat, das Abitur, sieben Jahre lang war er dort. Er dachte, sie wollte ihn loswerden, und floh an den Wochenenden zum Vater. Der nahm ihn auf, bestand aber auf der Frisur, die Sturheit eines verbitterten, orientierungslosen Menschen. Und die Mutter gab das Geld für den Frisör – das ist Jochens Obsession. Er springt auf, läuft hin und her, die Hände auf den Hüften. Er redet, er senkt den Kopf, sie ist Täterin, er Opfer. Es fällt schwer, ihm weiter zuzuhören. Jeder Mensch hat einen Traum, für den er lebt. Jochen lebt für diesen einen Traum, die Mutter, die den Sohn preisgegeben hat. Ein Albtraum.

Will man jemanden beschreiben, fangen die Widersprüche an, einerseits und andererseits. Bei Jochen scheint nur Wüste zu sein, kein Stück Oase. Aber dann der Gedanke: Er, der Einsiedler, der Unzugängliche, hier oben in seiner Wohnung, wie minutiös er sein Leben darlegt. Warum? Und warum ist er bereit, sich für die Zeitung porträtieren zu lassen? Das ist geheimnisvoll, widersprüchlich, interessant. „Ich muss es loswerden. Bei einem Menschen, der es aufschreibt.“ Das ist es also. Deshalb geht er diesen ungewöhnlichen Weg. Er, der Einsiedler, der Unzugängliche, braucht einen Menschen. Einen, der sich hinsetzt mit ihm. Will er tatsächlich raus aus sich und dem Käfig?

Grau ist er. Grau wie eine Depression. Ein Schatten seiner selbst, er ist mal jemand gewesen, früher, in seiner Jugend, hoffnungsvoll, wie jeder Jugendliche. Jetzt nicht mehr. Nichts an ihm fängt Aufmerksamkeit ein. Außer vielleicht der argwöhnische Blick aus smaragdgrünen Augen, die Miene versteinert. Ein Blick zu ihm hin ist wie der Sprung gegen eine Mauer. Die Schultern schmal, hochgezogen. Eins achtzig groß und die Schultern hochgezogen wie ein Kind, das zu schnell wächst. Aber er ist keins mehr. Die Haare werden weniger, der Bauch hängt ihm vor dem Leib wie eine Blase. Als sackte das von oben nach unten durch. Als ginge Jochen langsam in die Knie. Er sagt, dass das vom Essen kommt. Er isst unausgewogen, hastig, lustlos und zu wenig. Kein Obst, kaum Gemüse. Nie richtig satt, nie befriedigt sein nach einem guten Essen. Er kennt das behagliche Gefühl nicht, das gesättigte Verlangen, nach dem Kampf der Sieg. Überhaupt nie befriedigt, nicht geistig, nicht körperlich, nicht emotional. Ihm fehlt der Antrieb. Was braucht er da das Leben. Er weiß es selbst: „In dieser krassen Isolierung, in der ich lebe, schlafen die Bedürfnisse ein. Irgendwann passt du perfekt in die Kiste, in die du eingesperrt bist.“ Und später: „Die Grübelei frisst alles auf in mir. Da ist nichts mehr übrig für was anderes.“

Manchmal sprechen ihn Leute auf der Straße an, Paare, Mütter mit ihren Kindern. Sie wollen wissen, warum er sie so anguckt. So böse. Aber ich gucke sie nicht böse an, sagt er, ich gucke niemanden böse an, ich gucke bloß und frage mich, warum ich allein bin und die anderen nicht und wie es wäre, wenn jemand bei mir wäre. Er könnte in den Park gehen. Bänke, ein Spielplatz, eine Wiese, Bäume. Er könnte sich auf eine Bank setzen und warten, dass jemand zu ihm kommt. Er geht nicht hin.

Die Wohnung. Anderthalb Zimmer, mit Bad und Küche. Kein Zimmerschmuck, keine Bilder. Nur ein paar Möbel zum Draufsetzen und um etwas drauf abzustellen. Es ist wie auf einem seiner Fotos. Er zeigt seine Plattensammlung, an die 500 Platten müssen es sein. Hübsche Sachen. Pink Floyd, Captain Beefheart, Material. Von Frank Zappa das Album „Grand Wazoo“, von Miles Davis „Bitches Brew“. Jochen schwärmt, es ist das einzige Mal, dass er es tut, seine Gesten sind weich und ausladend. „Musik ist Leben“, sagt er. „Und Kiffen ist gut. Es öffnet dich, es inspiriert dich, ästhetisch und überhaupt, du siehst die Musik, die du gerade hörst.“ Es ist schön, seiner Verwandlung zuzusehen. Doch, zwei, drei Mädchen hat es in seinem Leben gegeben, jetzt erzählt er es, der Sex mit ihnen hat ihm Spaß gemacht, wenn sie sich vorher eine gedreht hatten und die richtige Musik lief. Er spielt die Platten nicht mehr ab, fünfhundertmal Leben im Schrank, die Nadel ist stumpf, seit Jahren schon, und Jochen will das Geld für eine neue nicht ausgeben.

Wie lebt einer, der von sich behauptet, dass er keine Leidenschaften hat, keine Gefühle? Dass Menschen in seinem Leben keine Rolle spielen?

Schlafen bis vormittags um halb elf. Dann fernsehen. Sitzen. Im Sessel, unterm Hintern eine zusammengefaltete Sofadecke. Weich. Nur aufstehen wegen Saft, der immer kalt im Kühlschrank steht. Jalousien runter, Fenster zu. Damit Tageslicht und Straßenlärm Fernsehbild und -ton nicht stören. Sollte die „Tim Mälzer Kochshow“ gerade laufen, fängt er mit der an. Im Bademantel. Zum Frühstück eine Scheibe Graubrot, ein gekochtes Ei, die erste Zigarette, den ersten Saft. Schreibt die Rezepte mit. Kleine, bunte Zettel, knapp hundert sind es schon, sie liegen oben auf der Kommode, gestapelt, wozu. Denn zum Mittagessen gibt es dann doch was aus dem Tiefkühlfach, Putenmedaillons in Joghurt-Kräuter-Marinade, Jochen isst das Gericht ohne was dazu. Abends wieder Stulle. Er klebt am Bildschirm. Aufrecht, den Kopf gestreckt, die Arme beiderseits rechtwinklig auf den Lehnen. Er sieht sich gute Sendungen an, er ist nicht abgestumpft. Auf 3sat immer die 100 Sekunden bei „Kulturzeit“. Prominente reden zu aktuellen Ereignissen. Jochen saugt es auf. Dann viel Arte und Phönix. Das am Tage. Abends RTL, Krimiserien, „CSI: Miami“, „Im Namen des Gesetzes“.

Nachmittags kurz runter, einkaufen, bei Bolle, auf dem Rückweg ein Weizenbier. Jochen trinkt es im Café, einem Kuchen-und-Kaffeetanten-Café, vor der Tür, auf dem Stuhl, absolut verschlossen, allein. Das Bestellen und Bezahlen bei der Kellnerin, das war es dann für den Tag an Worten und menschlichen Kontakten. Ach ja, die Kassiererin bei Bolle. Für das Bier nimmt er stets die Happy-hour-Zeit von fünf bis sieben, es kostet dann bloß 1,50 Euro, oft ist er der einzige Gast. Das Bier ist ihm wie der Wein. Er passt auf beim Trinken, er trinkt langsam. Von fünf bis sieben ist jedermann damit beschäftigt, sich auf den Abend vorzubereiten. Bei Jochen ist es ohne Zeit. Zwölf Jahre wohnt er im Kiez und kennt keinen Menschen, die Nachbarn nicht, er grüßt niemanden, und niemand grüßt ihn. Wenn er die Wohnung verlässt, in einer Wolke kalten Rauchs, die Tür auf- und zusperrt, kommt die Nachbarin manchmal raus und sprüht Raumspray in den Hausflur. Wortlos.

Nachts im Wohnzimmer, immer im Kreis, zwischen Fernseher und Couch. Klassik-Lounge hören, das beruhigt, eine Zigarette, dann die nächste, das beruhigt auch. Und dann der Wein. Jochen läuft vom Wohnzimmer in die Diele, bis zur Wohnungstür und wieder zurück und wieder im Kreis, führt seine anklagenden Selbstgespräche. Fünfmal, zehnmal, zwanzigmal. Die Gedanken an die Eltern sind da, und sie gehen nicht. Sie sollen nicht gehen, sie sind alles, was er hat.

Es hat einen Anfang gegeben. Vor 25 Jahren. Als der Vater starb, 1981, mit sechzig. Jochen erbte das Sparkonto, das Bargeld, das Haus. Zog bei der Mutter aus und ins Haus ein. Gab den Job in einem Imbiss auf. Er vergrub sich im Haus, im Schlafzimmer. Kiffte die Tage durch, die Nächte, acht Jahre lang, und draußen wuchs der Vorgarten zu und verschluckte, was sonst noch alles passierte. Nein, er hat die Zeit nicht verträumt, er war da, in einer anderen Welt. In der war nur er da, kein anderer sonst. „Ich hatte mehr Schwerkraft in mir als die, die auf dem Jupiter herrscht.“ Haschisch aus Marokko, Musik wie die von Miles Davis und Frank Zappa, das war der Grund, auf dem er sich bewegte. Er fühlte sich als Rebell, als Aussteiger, alles wie der Vater, als Denker und Verächter. Nur die Haare fielen ihm längst in den Nacken und über die Ohren.

Irgendwann war das Geld alle. Sie drehten ihm das Wasser ab, das Gas, den Strom. Jochen zog wieder bei der Mutter ein. Die kam ihm mit Vorwürfen. Mach was, sagte sie. Such dir eine Arbeit, los, mach irgendwas. Sie keifte, sie triezte ihn. Er reagierte nicht. Und weil er sich hinter seinem Fernseher verkroch, um nicht da zu sein, um nicht zu hören, verkroch sie sich schließlich hinter ihrem. Ein stummes, lauerndes Ringen. Dann machte Jochen was. Er nahm Tabletten, trank eine halbe Flasche Schnaps dazu. Der einzige Suizidversuch. Er hielt nicht durch, er schleppte sich ins Krankenhaus. Ein Schrei nach Hilfe? „Nein“, sagt er. „Es war mir ernst damit. Ich hab ihren Psychoterror nicht mehr ertragen.“

Dann fand er Arbeit. Als Kraftfahrer, Kioske mit Zeitungen beliefern, ein altes Auto, ein mieser Job, wieder Nachtarbeit. Er hatte immer miese Jobs gehabt, von Anfang an. Immer Kraftfahrer, immer Ladenhilfe, immer dienen. Und die Mutter gab nicht nach, auch jetzt nicht, nach dem Suizidversuch und nachdem er Arbeit gefunden hatte.

Warum kam er auch jetzt nicht aus sich heraus? Stellte Forderungen? An sich selbst, ans Leben, an andere? Stimmt, sagt er, ja, warum nicht, und schweigt. Er handelte wie immer: Er wich aus, zog sich in sich selbst zurück. Ging erneut ins Haus, ins Schlafzimmer, obwohl kein Wasser da war, kein Strom, kein Gas. Schmiss den Job, verbrachte die Zeit mit Warten, worauf. Mit dem Kiffen fing er nicht wieder an, kein Geld mehr dafür da. „Unbequem“ war es schon, sagt er, aber immer noch besser als bei der Mutter. Nach vier Jahren Sozialhilfe verkaufte er 1995 das Haus und kaufte sich die kleine Wohnung, in der er jetzt ist, ein Frührentner, wie der Vater. Nie ist er die ganzen Jahre aus seinem Stadtteil herausgekommen.

Bevor sie starb, hat die Mutter Jochen als Alleinerben eingesetzt und dafür gesorgt, dass er in eine günstige Krankenkasse kam. Sie hatte ihn immer unterstützt, wenigstens finanziell. Vielleicht hat sie ihn nicht so geliebt, wie Mütter sonst ihre Söhne lieben. Aber sie wusste, wie es um ihn steht. Sie wusste, er ist der ewige Sohn, ein klassischer Fall. Und vielleicht hat sie sogar ihren Anteil daran gespürt, dass er es geworden ist. Sie hat ihn nicht einfach so zurückgelassen.

Schnell ist die Zeit vorübergeglitten seit alldem. Jochen guckt nicht hin. Zwanzig Jahre hat er noch. Oder dreißig. Vielleicht mehr, wenn ihm nichts passiert, nichts Großes. Er bewegt sich gemächlich, er muss sich nicht aufreiben, er hat für niemanden zu sorgen außer für sich selbst. Deshalb ist er so grau. So schattenhaft. Er ist es auch wegen der Zigaretten, wegen des Fernsehens. Auch wegen der Sonne, der Luft, die ihm fehlen. In Wahrheit kommt alles von allem. Alles dreht sich im Kreis, kein Rauskommen aus dieser Welt.

Jalousien runter, Fenster zu. Das Leben bleibt draußen. Stört beim Fernsehen. Das Fernsehen tötet etwas in ihm ab, vielleicht die Gewissheit, dass was nicht stimmt. Er legt die Kette vor und dreht den Schlüssel rum, zweimal. Er müsste es nicht tun, es kommt keiner. Noch nie ist einer gekommen, hat geklingelt und gesagt, guten Tag, Herr H., ich wünsch Ihnen was. Oder, hallo, Jochen, wie geht’s, lange nicht gesehen. Kein Rauskommen aus dem Kreis.

Alle paar Wochen ruft Tante Ulla an, die Schwester des Vaters. Aber sie ist auch der Kreis. Alles ist der Kreis. Das letzte Mal Kino, das sechs Jahre zurückliegt. Das letzte Mal Theater, das von der Schule aus war, „Kabale und Liebe“. Urlaub vor fünf Jahren, ein paar Tage, mit Tante Ulla, in Vorpommern, Verwandte besuchen. Karl, der Cousin, der ebenfalls in Berlin lebt, seit anderthalb Jahren nicht gesehen. Das alles ist der Kreis. Nichts, was ihn rausreißen könnte.

Er sagt, ich würde gern einmal entspannen, mich erholen, aber es geht nicht, mir fehlt der Gegensatz, die Anstrengung. Er sagt, ich kann mich nicht freuen, ich konnte mich noch nie freuen, über das Leben, meine ich. Er sagt, so etwas wie Freude habe ich nur dann empfunden, wenn was Unangenehmes an mir vorübergegangen ist. Aber das ist nicht das Leben, nicht?

Jochen spart. Das Erbe, das er hat und das sich durch Anlagen vermehrt, die Wohnung und der Nachlass der Mutter, es muss langen bis ans Lebensende. Er will es erreichen, ohne je wieder eine Hand zu rühren, so rechnet er. Er will warten. Er hofft darauf, dass noch was passiert. Was Unvorhergesehenes. Dass das Schicksal ihm ein Geschenk macht, ihm Gerechtigkeit zu Füßen legt. Wie beim Tod der Eltern. Als auf einmal das Geld da war. „Wie ein Deus ex Machina.“

Er beißt sich wieder auf die Unterlippe. Mensch, Jochen, möchte man zu ihm sagen. Man möchte so vieles zu ihm sagen. Aber würde er was hören wollen? Er sagt, mit dem Essen, das wird er ändern. Erst das, dann alles andere. Es soll ein erster Schritt sein. Er will die Tim-Mälzer-Rezepte nachkochen. Nicht alle, erst mal die obersten Zettel. Pellkartoffeln mit Quark, Blitz-Tomatensuppe, Waldorfsalat, Ente für vier Personen. Das wäre wie ein neues Leben. Jochen fasst sich an den Bauch, sieht hoch, in Richtung Küche. Als wollte er nach dem Kellner rufen und bestellen.

THOMAS FEIX, geboren 1960, lebt als freier Autor in Berlin. OLIVER SPERL, geboren 1969, lebt als freier Gestalter und Illustrator in Berlin. Zuletzt erschien von Feix und Sperl im taz.mag das Dreierporträt „Bei Waldschrats“