: Musiker reden, wenn sie spielen
JAZZIKONE Über Miles Davis wurde schon viel geschrieben. Wolfgang Sandner gelingt es in seiner neuen Davis-Biografie, Musik in Sprache zu übersetzen
Vielleicht ist das Rätselhafte an den ganz Großen ihre Unbeirrbarkeit. Schon ganz früh scheinen sie sich frei zu machen von Althergebrachtem, von Erwartungen und Traditionen, ohne diese zu verraten. Sie sind sich selbst vielleicht nicht alleine Quell, aber doch Maß aller Dinge. Ihre Selbstsicherheit ruht auf Prinzipien, die sich auf unerklärliche Weise in ihnen manifestiert haben müssen.
Als Miles Davis in jungen Jahren an der renommierten Juilliard School of Music studierte, stand die Entstehung des Jazz auf dem Stundenplan. Die Dozentin betete, berichtete Davis später, all die Klischees herunter, die damals über den Jazz in Umlauf waren: Dunkle Kaschemmen und ausgebeutete Landarbeiter spielten in ihren sozialromantischen Ausführungen ebenso eine Rolle wie blinde Straßenmusiker und Gewalt. „Miles Davis meldete sich zu Wort und sagte, er stamme aus einer reichen Familie, sein Vater sei Zahnarzt in East St. Louis und er selbst habe nie in seinem Leben ein Baumwollfeld gesehen. Aber was eine Blue Note sei und wie man sie spiele, wisse er genau.“
Wolfgang Sandner erzählt diese Anekdote in seiner gerade erschienenen Biografie über den großen Erneuerer des modernen Jazz, und er zitiert sie nicht ohne Grund: Miles Davis war keiner, der sich eine kulturelle Identität aufzwingen lassen wollte. Auch auf Vorwürfe aus der Community, er engagiere weiße Musiker für seine Band, reagierte er harsch. Es spiele schließlich keine Rolle, ob jemand weiß, schwarz oder grün sei, solange er das Saxophon so spielen könne wie Lee Konitz. Sandners biografische Annäherung an Miles Davis ist ein Wagnis: Es gibt wohl neben John Coltrane kaum einen Musiker, der in den letzten 60 Jahren größeren Einfluss auf die Entwicklung des Jazz gehabt haben dürfte.
Und keinen, über den mehr geschrieben wurde. Nicht zuletzt hat Davis sich selbst an eine Interpretation seines Lebens gemacht – seine Autobiografie, über 600 Seiten lang und gewohnt großmäulig, erschien 1989, zwei Jahre vor seinem Tod. Was ist dem noch hinzuzufügen?
Eine ganze Menge, wie man nun nachlesen kann: Sandner, ehemaliger Musikredakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, hat die Fähigkeit, die musikalischen Entwicklungsschritte von Davis – vom Cool Jazz über den Hardbop und den modalen Jazz zu den Fusion-Experimenten der späten 60er Jahre und zum Rock-Jazz der 70er – in sehr anschaulicher Sprache nachvollziehbar zu machen.
Nichts ist schwieriger, als Musik in ein anderes Medium zu übersetzen – Sandner aber findet für jede Phase des Schaffens von Davis seinen eigenen Ton, der Stimmungen und Schwingungen so hörbar macht, als würde nebenher eine Schallplatte mitlaufen. Ihm gelingt es zudem, die Lebens- und Werkgeschichte in einen größeren Kontext einzubetten. Wie Rainer Stach in seiner monumentalen Biografie über Kafka stellt Sandner auf ganz beiläufige, souverän erzählende Weise ein Verständnis für die Lebenssituation, das kulturelle und ästhetische Umfeld her. „Historische Empathie“, nennt Stach das, und man darf diesen Begriff auf Sandners Davis-Biografie übertragen.
Jazz aus Stein und Stahl
So wird etwa die Ankunft des zwanzigjährigen Miles Davis in New York – einer Stadt, die Le Corbusier wie „Jazz aus Stein und Stahl“ vorkam – zugleich zu einer Kulturgeschichte der Jazzszene der mittleren 1940er Jahr und zu einem Porträt der Metropole.
Immer wieder holt Sandner elegant aus, spiegelt seine Überlegungen auch in anderen Künsten und kommt so dem Charakter von Miles Davis stetig näher: Der war für den Biografen ein „Seismograph“, der „alle unterirdischen Beben seiner Zeit“ registrierte und mit seinem Instrument „alle überirdischen Schwebungen dazu peinlich genau“ aufzeichnete; Davis hatte das Talent, sich immer wieder mit Musikern zu umgeben, die er zu Höchstleistungen anspornte; er zog sich alleine aus dem Drogensumpf, in den er hineingestolpert war; er wurde zu einer Ikone des Cool und des schwarzen Selbstbewusstseins; und immer wieder retteten ihn Frauen aus den misslichsten Lebenslagen.
Davis hatte sich Freiheiten erarbeitet, die nicht nur ihn, sondern auch die Geschichte des Jazz voranbrachten. Tatsächlich war er mit einem sechsten Sinn für das ausgestattet, was gerade abging. Und er konnte es auf seine Art formulieren.
„Jedes Instrument ist die Verlängerung der Zunge. Immer wieder muss man sich das bewusst machen, wenn man es mit musikalischen Künstlern zu tun hat“, schreibt Sandner zu Beginn seines Buchs. „Musiker reden, wenn sie spielen. Und sie haben oft nichts zu sagen, wenn sie reden. Man sollte nicht enttäuscht sein, wenn man mit ihnen spricht und nicht das erfährt, was man wissen will. Man sollte sich lieber anstrengen zu verstehen, was sie sagen, wenn sie spielen.“ Wolfgang Sandner tut das.
ULRICH RÜDENAUER
■ Wolfgang Sandner: „Miles Davis. Eine Biographie“. Rowohlt Berlin 2010. 299 Seiten. 19,95 Euro