Was die Zeit mit den Leben macht

Christoph Marthaler entdeckt die zartesten Seelen in den mächtigsten Körpern und inszeniert Ödön von Horváths Stück „Geschichten aus dem Wiener Wald“ an der Berliner Volksbühne. Gesummt und gesungen wird wieder viel, aber diesmal ist in einem Marthaler-Abend auch viel Sprechtheater drin

VON SIMONE KAEMPF

Der Metzger Oskar? Ein Fiesling natürlich, der sich mit dem Taschenmesser die Fingernägel manikürt. So beschreibt ihn Ödön von Horváth in seinen „Geschichten aus dem Wiener Wald“. Aber trotzdem einer, dem man nichts übel nehmen kann. Der sich menschlich öffnet, wo Taktik angesagt wäre, und taktiert, wo er sich menschlich öffnen sollte. Ein Tollpatsch, der Kopf leer, das Herz weit. Geweitet vor allem, weil sich der Theaterregisseur Christoph Marthaler nun mal mit weitem Herz einer Figur wie dieser annimmt, die allgemein als Seelenfresser und Menschenmetzger gilt.

So ist das Fleischermesser, das Horváth vorsieht, schon einmal ganz gestrichen in Marthalers Inszenierung an der Berliner Volksbühne. Ja kein falscher Verdacht soll aufkommen. Denn Oskars Hände greifen nicht kalt die Herzen an und können nicht mal süße Mädeln vernaschen. Stattdessen: Salzstangen beim Badeausflug. Während Oskar und sein Metzger-Gehilfe auf einem bunten Badetuch das Salzgebäck in einem kleinen Mikadowettkampf verknuspern, landet seine Marianne am Rande der Liegewiese in den Armen von Alfred. Was ihr für Momente einen Ausweg aus der tristen Plattenbau-Stimmung verschafft.

Es ist schön, wie die Ausstattung nebenbei ein Stück DDR-Geschichte miterzählt. Der Hinterhof, in den man schaut, ist mit Spritzbeton asphaltiert, auf dem man sich in sozialistischer Improvisationskunst auch zum Sonnenbaden räkelt. Rechts eine altmodische Kinokasse, darüber eine Plattenbauetage. Ganz hinten eine Bar mit Blümchentapete, in der Clemens Sienknecht als Alleinunterhalter auch mal „Wings of Freedom“ auflegt. Aber das ist nur eine Spur, die nicht weiter geht.

Denn dieser Hinterhof, den Anna Viebrock gebaut hat, ist tatsächlich auch an das Foyer des Wiener Kinos Bellaria angelehnt, das überregional durch einen Dokumentarfilm bekannt wurde. Er zeigte die gealterten Kinobesucher, die in den Schwarzweißfilmen von damals ihren Jugendträumen nachhängen. Szenen daraus lässt Marthaler am Anfang an der Kinokasse nachspielen und holt so die Wiener wie die Berliner Träumer zusammen auf die Bühne. Ihr Dämon ist die Zeit, die personifizierte Entfremdung. Egal, was sie auch tun, am Ende steht immer ein beherztes „Vorwärts, wir gehen zurück“.

So bleibt Marianne am Ende nichts anderes übrig, als die Versorgungsehe resigniert abzunicken. Bettina Stucky spielt sie strahlend, eine resolute Romantikerin, der auch im Nachgeben das Widerständische bleibt. Ueli Jäggi als Oskar sitzt sein Ziel so brav wie komödiantisch-traurig aus. Die Wiederverlobung beider löst auch Alfred aus den Schuldzusammenhängen, er bekommt die verschlagene Valerie zurück, die am besten von allen weiß, dass mit diesen Männern kein Staat zu machen ist.

Was die Zeit mit den Leben macht, auf der Strecke zwischen Leben und Tod, ist das eigentliche Thema, das in seinen rührend-komischen Facetten durchgespielt wird. Und das macht einmal mehr die Reize dieses Marthaler-Abends aus, der sich im Grunde in der Wiener Kulturtechnik des Schmähs bewegt: als unernst gemeint zu glaubhaft und ernst gemeint zu unglaubhaft. Neffe Erich ist sich zum Beispiel sicher, dass die Seelen verstorbener Menschen in Tiere wandern, „in Elefanten oder Schlangen“. Josef Ostendorf als Mariannes Vater ist ein Mann wie ein Elefantenbulle, stets in der Gefahr zu zerquetschen, was er in die Hände kriegt, der aber angesichts der Erinnerungen an die gestorbene Frau trompetend in Tränen ausbricht – in den mächtigen Körpern wohnen die zartesten Seelen. Im Falle einer Wiedergeburt würde er „am liebsten als ein Tier zurückkehren, das bereits gestorben ist“.

Zwischen den Witzen müssen auch die drastischen Szenen gespielt werden. Teils gelingt das nur als Pflichtprogramm, wenn etwa der Tod des Kindes verkündet wird. Oder verströmt gelungen die Miefigkeit abgestandenen Alkohols: Marianne, die als Tänzerin in einer Table-Dance-Bar arbeitet. Im diesem zweiten Teil des Abends scheint die Zeit immer wieder langsamer zu laufen, als könnte die Mechanik des Unglücks doch noch angehalten werden. Wo den Figuren an den Biertischen die Sprache fehlt, singen und summen sie. Das ist keine Überraschung in einem Marthaler-Abend. Dennoch ist dieser Abend viel mehr Sprechtheater als Marthalers Inszenierungen zuvor. Wechselt öfter Tempo, Farbe und Stilelemente. So wie es sich auch die Figuren wünschen. „Nur wer sich wandelt, ist mit mir verwandt“, sagt Oskar einmal. Aber als gesellschaftliche Konvention setzt ihm das längst als Trauma zu.