: Verlorene Welten
SCHEUNENVIERTEL Das ehemalige Armenviertel Berlins ist heute eine teure Wohngegend. Horst Helas’ Buch „Die Grenadierstraße im Berliner Scheunenviertel“ erinnert an die jüdische Vergangenheit
VON AKIM JAH
Seit dem Fall der Mauer hat sich die Spandauer Vorstadt – die Gegend also zwischen Chausseestraße und Rosa-Luxemburg-Platz – zu einem der beliebtesten und teuersten Stadtteile von Berlin entwickelt. Das war nicht immer so. Vor 1945 waren weite Teile der Vorstadt durch Armut geprägt, der Ruf enger und schlecht ausgestatteter Wohnungen eilte der Gegend voraus.
Eine besondere Bedeutung kam dabei dem Scheunenviertel zu. Das Quartier zwischen Alter Schönhauser Straße, dem heutigen Rosa-Luxemburg-Platz und dem Alexanderplatz war seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts ein Zentrum des ostjüdischen Lebens in Deutschland. Das Viertel und seine Magistrale Grenadierstraße waren geprägt von koscheren Lebensmittelläden, von Betstuben und dem charakteristischen Erscheinungsbild der orthodoxen Juden. Letztere waren – oftmals auf der Flucht vor antisemitischen Pogromen – aus Russland, den preußischen Ostprovinzen oder dem österreichisch kontrollierten Galizien gekommen.
Aber egal ob Juden oder Nichtjuden, mehr noch als in der Spandauer Vorstadt insgesamt waren die meisten Bewohner des Scheunenviertels arm. Wie Gittel Weiß in ihren Erinnerungen schreibt, waren „fast alle ohne geregelte Arbeit, ohne Aussicht auf Arbeit und ohne eine auch nur einigermaßen gesicherte Existenz“.
Der Nationalsozialismus war das Ende des Scheunenviertels als jüdisch geprägter Ort. Die jüdischen Bewohner wurden deportiert und ermordet. 1945 war vom jüdischen Leben nichts mehr übrig. Sichtbare Spuren der einzigartigen Geschichte des Scheunenviertels sind heute kaum vorhanden. Aus der Grenadierstraße wurde 1951 die Almstadtstraße, benannt nach dem kommunistischen Widerstandskämpfer Bernhard Almstadt. Noch sichtbare hebräische Buchstaben wurden in der DDR überpinselt. In den 80ern entstanden in den kriegsbedingten Baulücken neue Plattenbauten. Nach der Wende wurden noch erhaltene Altbauten – zum Teil unter Einsatz brachialer Methoden – entmietet und für eine solvente Mieterschaft modernisiert. So ist es eine Ironie der Geschichte, dass das ehemalige Armenhaus der Hauptstadt heute zu einer der attraktivsten Wohngegenden Berlins geworden ist.
In seinem Buch „Die Grenadierstraße im Berliner Scheunenviertel. Ein Ghetto mit offenen Toren“ widmet sich der Berliner Historiker Horst Helas der Geschichte des Viertels und seiner wichtigsten Straße. Der in der Reihe Jüdische Miniaturen bei Hentrich & Hentrich erschienene Band bietet einen historischen Abriss der Geschichte der Straße und des Viertels sowie der Wiedergabe einzelner Familiengeschichten von ehemals in der Grenadierstraße wohnenden oder gewerbetreibenden Familien. Sie hat Helas auf der Basis von Begegnungen mit Überlebenden und Nachfahren dokumentiert. Das Buch bildet eine wertvolle Ergänzung zu dem 1981 von Eike Geisel herausgegebenen Pionierwerk „Im Scheunenviertel“, das den Gedächtnisverlust in Bezug auf die jüdische Geschichte des Scheunenviertels erstmals zum Thema gemacht hat.
Auch Horst Helas beklagt, knapp 30 Jahre nach Geisel, das mangelnde Wissen um die Geschichte bei den heutigen Bewohnern und Inhabern der wenigen Geschäfte in der Almstadtstraße. Das Defizit im öffentlichen Bewusstsein schließt die Unkenntnis darüber ein, bei welchen Straßenzügen es sich überhaupt um das historische Scheunenviertel handelte. Als werbewirksamer Begriff ist das Scheunenviertel ein äußerst dehnbarer Begriff geworden, der mitunter auf die komplette Spandauer Vorstadt ausgedehnt wird. Im Internet werden auch heute noch „gepflegte Wohnungen im Scheunenviertel zur Kapitalanlage“ angeboten, die sich zwar in der Spandauer Vorstadt befinden, aber dennoch weit weg vom Scheunenviertel.
■ Horst Helas: „Die Grenadierstraße im Berliner Scheunenviertel. Ein Ghetto mit offenen Toren“. Hentrich & Hentrich Verlag, Berlin 2010, 128 S., 26 Abb., 12,90 Euro