: Luft nach oben
TRAUM ODER ALPTRAUM Wenn der Wohnraum in den Städten knapp wird, könnten Hochhäuser die Antwort sein. Doch in Deutschland stoßen sie auf Vorbehalte. Über den Umgang mit hohen Häusern ➤Schwerpunkt SEITE 43–45
■ 63, lehrt Architekturtheorie und Baugeschichte an der School of Architecture der Hochschule Bremen und ist wissenschaftlicher Leiter des Bremer Zentrums für Baukultur (BZB).
VON EBERHARD SYRING
Zu Hochhäusern gibt es meist klare Haltungen: Man liebt sie oder man hasst sie. Doch ist die Zu- oder Abneigung – jedenfalls in den meisten mitteleuropäischen Städten – auch konjunkturabhängig, unterliegt zeitgeistbestimmten Einstellungswandlungen. Die letzte Hochphase erlebte dieser Gebäudetypus, als die Nachkriegsmoderne zwischen den 1950er- und 1970er-Jahren das Gesicht unserer Städte prägte. Danach war, abgesehen von ein paar Finanzzentren, erst mal Schluss mit dem Hochhausbau, bis er Ende der 1990er-Jahre langsam wieder ein Thema wurde, die Fantasie der Investoren und Architekten anregte und auch beim Publikum ankam – oder doch zumindest nicht zu erbittertem, massenhaftem Widerstand führte.
Natürlich sind wirtschaftliche Gesichtspunkte die zentrale Voraussetzung für den Bau von hohen Häusern, doch ist damit weder das Unbehagen noch die Faszination zu erklären, die sie hervorrufen können. Die Geschichte des modernen Hochhausbaus beginnt Ende des 19. Jahrhunderts, doch hohe Gebäude wurden schon früher errichtet. Die Pyramiden von Gizeh, die Hagia Sophia, die gotischen Kathedralen sind bis heute bewunderte Monumente, mit denen sich aber nicht selten ein ambivalentes Gefühl verband. Hohe Bauwerke symbolisieren Macht, setzen sich aber immer auch dem Verdacht der Machtanmaßung aus. Der sagenumwobene babylonische Turm – in der historischen Wirklichkeit eine über neunzig Meter hohe Stufenpyramide – ist in das kollektive Gedächtnis vor allem als Symbol einer solchen Anmaßung eingegangen. Pieter Brueghels berühmtes Gemälde „Großer Turmbau zu Babel“ von 1563 reflektiert zugleich zeitkritisch die Ruinen der nicht vollendeten Kathedralen-Projekte, die zu seiner Zeit in vielen europäischen Städten anzutreffen waren.
Aber auch im Profanbau ging es im Mittelalter zuweilen demonstrativ in die Höhe. Mehr als hundert zum Teil über sechzig Meter hohe Geschlechtertürme bestimmten im 14. Jahrhundert die Stadtsilhouette von Bologna und machten aus der oberitalienischen Stadt ein Manhattan avant la lettre.
Die Technik rationaler Tragsysteme aus Eisen und die Entwicklung von Personenaufzügen waren zwei entscheidende Voraussetzungen für den modernen Hochhausbau, dessen Wiege in den Vereinigten Staaten stand. New York und Chicago lieferten sich einen erbitterten Wettstreit um die fortschrittlichsten und höchsten Wolkenkratzer – was die europäischen Avantgardearchitekten wie Le Corbusier und Walter Gropius neidvoll über den großen Teich blicken ließ. Gleichwohl kritisierten sie ihre amerikanischen Kollegen, weil diese die Stahlskelette mit historisierenden Fassaden verkleideten.
Es brauchte noch ein paar Jahrzehnte, bis die modernen Hochhäuser auch formal auf der Höhe ihrer Zeit waren. Dieser Durchbruch geschah nach dem Zweiten Weltkrieg und stand zugleich für eine weltweite Ausbreitung des Gebäudetyps. In diesem Zug rückte eine neue Nutzungsform für diese Häuser in den Vordergrund. Waren Hochhäuser bis dahin vor allem Büro- und Verwaltungsbauten, gehörte bald das Wohnen im Hochhaus zum Lifestyle westlicher Nachkriegsgesellschaften. Bekannte Architekten wie Le Corbusier, Mies van der Rohe, Alvar Aalto oder Hans Scharoun lieferten architektonisch ansprechende Muster. In der gebauten Realität waren die in den aufgelockerten Siedlungen der Nachkriegszeit platzierten „Hochpunkte“ beziehungsweise „städtebaulichen Dominanten“ architektonisch aber meist eher Durchschnittsware.
Neben Eigentumswohnungen füllten diese Häuser bald auch schon die Mietwohnungen des sozialen Wohnungsbaus. Mitte der 1960er-Jahre entstand bei immer knapper werdendem Bauland und anhaltender Wohnraumnachfrage unter der Formel „Urbanität durch Dichte“ eine verdichtete Bauweise hoher Bauwerke auf engen und oft dezentral gelegenen Flächen. In allen größeren europäischen Städten – auch im Ostblock – wuchsen in dieser Zeit Großsiedlungen aus dem Boden mit „Punkthäusern“ und endlos wirkenden vielgeschossigen Zeilen, die teils zu imposanten Wohngebirgen anstiegen. Vermittelten ihre expressiven Formen noch einen vagen Anklang an die Wohnutopie der „vertikalen Stadt“ als autonome Insel in der Stadtlandschaft, wie sie den Avantgardisten der Moderne vorschwebten, so war die Lebensrealität in diesen Gebilden häufig weitaus prosaischer – statt Wohnutopie sozialer Brennpunkt. Diese Diskrepanz zwischen ambitionierter Architekturform und sozialer Wirklichkeit veranschaulicht drastisch Matteo Garrones Film „Gomorrha“ am Beispiel der neapolitanischen Trabantenstadt Scampia.
Nun sollte keineswegs der falsche Schluss gezogen werden, dass bestimmte Wohntypologien automatisch soziale Brennpunkte produzierten. Viele Hochhausanlagen – auch aus den 1970er-Jahren – funktionieren immer noch bestens und werden von ihren Bewohnern geliebt. Andere wurden inzwischen aufwendig umgebaut und aufgewertet. Die Großsiedlungen der sogenannten Spätmoderne haben vor dreißig, vierzig Jahren jedoch ein allgemeines Unbehagen an der modernen Architektur und insbesondere an Hochhäusern ausgelöst, das bis heute nachwirkt. Wenn seit einigen Jahren wieder vermehrt Hochhäuser – auch Wohnhochhäuser – entstehen, so ist ein Grund dafür, dass unter dem Label „Zweite Moderne“ moderne Architekturformen und -typologien wieder mehr geschätzt werden.
Der Hauptgrund liegt aber in einem neuen urbanen Entwicklungsschub. Während einige industriell geprägte Städte und Regionen einem anhaltenden Schrumpfungsprozess ausgesetzt sind, wachsen andere Städte, vor allem die größten. Motor dieser Entwicklung ist der neue Trend zum urbanen Wohnen. Das, was Stadtplaner schon jahrzehntelang mit mäßigem Erfolg propagiert hatten: die verdichtete Stadt der kurzen Wege, war plötzlich nachgefragt, ohne dass man richtig darauf vorbereitet war. Die Vorzüge von innenstädtischen Wohnlagen, von Yuppies schon länger geschätzt, wurden nun auch von Menschen entdeckt, die vor Jahren noch in die Peripherie gezogen waren, um sich dort ihren Einfamilienhaus-„Wohntraum“ zu verwirklichen. Das Häuschen tauschten sie mit einer Eigentumswohnung in der Stadt, gern auch in einem Wohnhochhaus.
Begehrte Standorte für diese Schichten sind zentrumsnahe Konversionsflächen und bislang vernachlässigte Quartiere beispielsweise in Bahnhofsnähe. Viertel wie Hamburg-St. Pauli oder das Züricher Bahnhofsviertel erfahren zurzeit – initiiert durch einige Neubauprojekte – eine drastische Steigerung des Mietpreisniveaus, genannt Gentrifizierung (= „Aufwertung“ + Verdrängung). Durch den raschen Bevölkerungszuwachs in einigen großen Städten und die Verdrängung von Bewohnern aus ihren angestammten Quartieren ist eine neue Wohnungsnot entstanden.
Die neuen Wohnhochhäuser, die in diesen Quartieren weithin sichtbare Zeichen des Umbruchs setzen, sind für ein zahlungskräftiges Publikum konzipiert. Das ist vor allem eine Folge der um rund 20 Prozent höheren Kosten, die der Bau und Unterhalt dieses Haustyps erfordert. Dass die neuen Hochhäuser meist von angesehenen Architekten entworfen wurden und hohe ästhetische Qualität aufweisen, tröstet nur schwach über die Tendenz zur Homogenisierung der zentralen Wohnlagen hinweg. Das wird in Politik und Stadtplanung längst erkannt. Ob die in einigen betroffen Städten geschmiedeten „Bündnisse für Wohnen“ gegen den Marktdruck eine wirksame Gegensteuerung erreichen können, muss sich aber erst noch herausstellen. Damit die Verdichtung bestimmter Quartiere nicht zwangsläufig zu „Reichen-Ghettos“ führt, wären dringend Ideen für alternative, das heißt bezahlbare Wohnangebote auch in hohen Häusern gefragt. Leider hat sich die Architektenzunft in dieser Frage des Hochhausbaus weniger kreativ gezeigt als in formalistischen Spielchen mit spektakulären Großskulpturen.
Ein wichtiges Thema ist in diesem Zusammenhang der konstruktive Umgang mit dem Erbe der Nachkriegsmoderne. Der Umbau eines an der Pariser Ringautobahn gelegenen, abgerockten Wohnhochhauses aus dem Jahr 1960 durch die Architekten Frédéric Druot, Anne Lacaton und Jean Philippe Vassal demonstriert, wie man in diesem schwierigen Erbstück durch geschickt gesetzte Anbauten attraktive bezahlbare Wohnungen schaffen kann, die heutigen ökologischen und sozialen Standards entsprechen. Wege zum kostengünstigen Wohnen könnten auch in der intelligenten Umnutzung leer stehender Bürotürme stehen. In Bremen böte sich dafür das frühere Bundeswehrhochhaus an, das seit Jahren nur noch als Location für den Bremer Tatort genutzt wird.
Als wohl spektakulärstes Beispiel einer eigenwilligen Umnutzung gilt der Torre de David in der venezolanischen Hauptstadt Caracas. Das Centro Financiero Confinanzas, wie das mit 192 Meter dritthöchste Gebäude Venezuelas eigentlich heißt, wurde infolge der Finanzkrise und nach dem Tod seines Inverstors David Brillembourg (daher Torre de David) nicht mehr fertiggestellt. Der Staat übernahm die Rohbauruine. 2007 besetzten Bewohner aus den Armenvierteln der Stadt das Gebäude. Inzwischen wird es von rund 2.500 Menschen in Selbstverwaltung bewohnt, darunter auch Angehörige der Mittelschicht, die sich die hohen Mieten der Hauptstadt nicht mehr leisten konnten. Auf den Etagen haben sich Läden und kleine Handwerksbetriebe niedergelassen. Das Architektenteam Urban Think Tank begleitete das Projekt und entwickelte eine Studie, die diese Form der kreativen Aneignung und Selbstverwaltung als Wohnmodell der Zukunft propagierte. Die Studie wurde 2012 auf der Architekturbiennale in Venedig vorgestellt und mit dem „Goldenen Löwen“ ausgezeichnet.