: Das ist die Zukunft
URBANE VISIONEN Der Verkehr in Berlin soll bis 2050 klimaneutral sein. Unmöglich ist das nicht – doch ob das ambitionierte Ziel Utopie bleibt oder Realität wird, hängt ganz vom politischen Willen der jetzigen Generation ab
■ Beispiel: Die Berlinerin B. fährt jeden Werktag 7 Kilometer zur Arbeit und wieder zurück. In ihrer Freizeit bewegt sie sich am Tag im Schnitt weitere 6 Kilometer. Die tägliche Gesamtstrecke von 20 Kilometern entspricht damit dem Berliner Durchschnitt. Die Fußabdrücke zeigen, wie der Jahres-CO2-Ausstoß je nach Verkehrsmittel variiert. Berücksichtigt wurden dabei nur werktägliche Fahrten von weniger als 100 Kilometern.
■ Quellen: Senatsverwaltung für Stadtentwicklung/System repräsentativer Verkehrsbefragung; http://uba.klimaktiv-co2-rechner.de; eigene Berechnung (taz)
VON CLAUDIUS PRÖSSER
Die Zukunft des Berliner Verkehrs ist eine elektrische Zahnbürste. Zugegeben: Er ist eine Zahnbürste, die einem BVG-Bus ziemlich ähnlich sieht und auch als solcher von Haltestelle zu Haltestelle fährt.
Mit einem entscheidenden Unterschied allerdings zu den bekannten gelben Wagen: Anstatt auf dem Betriebshof mit Diesel befüllt zu werden, rollt das elektrisch betriebene Gefährt an ausgewählten Streckenpunkten über eine Induktionsschleife, die sich diskret unter dem Asphalt verbirgt. Und ähnlich wie die Zahnbürste auf ihrer Ladestation wird dann auch die Busbatterie geladen – geräuschlos, berührungslos und sogar in wenigen Minuten: „Hochleistungsgelegenheitsladen“ nennt der Hersteller, die Bombardier-Tochter primove, diese Technologie.
Ansehen kann man sich die Zukunft aber vorerst nur in einem PR-Filmchen auf der Website des Herstellers. Denn der E-Bus ist zwar ein reales Projekt, kommt aber frühestens in einem Jahr – und auch dann bloß auf einer Strecke, die kaum einer kennt: Fünf primove-Fahrzeuge werden dann auf der BVG-Linie 204 zwischen Bahnhof Zoo und Südkreuz hin- und herpendeln. Im Zwanzig-Minuten-Takt, und Sonntags gar nicht. Aber ein bescheidener Anfang wäre es doch.
Der bescheidene Anfang eines Verkehrs der Zukunft, der ein bisschen so aussieht, wie ihn sich Kinder vor Jahrzehnten für das Jahr 2000 ausmalten. Ohne fliegende Autos und Menschen mit Jetpacks auf dem Rücken, aber mit flüsterleisen elektrischen Pkws, deren Antriebe sich aus einem gewaltigen unterirdischen Stromnetz speisen, mit Fahrrädern, die fast von alleine fahren, mit schlauer Technik, die alles steuert und vernetzt, und vor allem: mit sauberer Luft. Sie könnte immerhin schon im Jahr 2050 Wirklichkeit werden.
Wobei das mit der sauberen Luft nur eine Metapher ist. Denn das Kohlendioxid, das unsere heutigen Fahrzeuge direkt oder indirekt in die Atmosphäre entlassen, stinkt und vernebelt ja nicht, es bringt nur das globale Klima langsam zum Kippen.
Um das Schlimmste zu verhindern, ringt die Weltgemeinschaft immer wieder um bindende Ziele zur Verringerung der CO2-Emissionen. Die Bundesregierung will erreichen, dass in Deutschland bis zum Jahr 2020 mindestens 40 Prozent weniger CO2 als 1990, dem Basisjahr aller Berechnungen, ausgestoßen werden. Zwischen 80 und 95 Prozent weniger sollen es dann bis 2050 sein.
Ein ambitioniertes Fernziel, auf das der rot-schwarze Senat in seiner Koalitionsvereinbarung von 2011 eingestiegen ist: 85 Prozent weniger Kohlendioxid als 1990 soll den Berliner Schornsteinen und Auspuffrohren im Jahr 2050 entweichen. Seit Kurzem ist dieses ambitionierte Klimaziel auch akademisch unterfüttert: Im Auftrag der Landesregierung hat das renommierte Potsdam Institut für Klimafolgenforschung (PIK) die Machbarkeitsstudie „Klimaneutrales Berlin 2050“ vorgelegt.
Was heißt „Neutralität“?
Darin entwerfen die Wissenschaftler unter der Leitung des Klimaforschers Fritz Reusswig Szenarien, wie die klimaneutrale Stadt der Zukunft aussehen könnte. Wobei man das mit der „Neutralität“ nicht so verstehen dürfe, dass die CO2-Emissionen auf dem jetzigen Stand gehalten werden oder gar, so könnte man „Neutralität“ schließlich auch interpretieren, überhaupt kein Kohlenstoffdioxid mehr in die Atmosphäre gepustet wird.
Klimagase hätten schließlich eine Langzeitwirkung: „Selbst wenn wir heute komplett aufhören würden, zu emittieren, würde sich das Klima um 0,6 Grad erwärmen“, so der Wissenschaftler. „Ziel des Konzepts ist es deshalb, zwei Grad Erwärmung gegenüber der vorindustriellen Epoche nicht zu überschreiten.“
Für Berlin heißt das in absoluten Zahlen: Der gesamte CO2-Ausstoß muss auf 4,4 Millionen Tonnen im Jahr sinken. Zurzeit liegt er bei rund 20 Millionen Tonnen.
Für Klimaforscher Fritz Reusswig und seine Kollegen ist indes klar: Die Zukunft gehört dem Strom. Gebäudewärme, einer der größten Posten in der Energiebilanz, wird zwar auch in der Vision der Potsdamer Klimawissenschaftler vor allem durch Verbrennung erzeugt. Zum Einsatz kommt hier jedoch nur noch Gas, das aus Biomasse erzeugt wird – oder aber aus überschüssigem Strom.
Fortsetzung SEITE 44; wie Radaktivisten urbane Mobilität denken SEITE 45
Gas aus Strom? Das geht – und zwar durch einen relativ simplen chemischen Vorgang, der Wasserelektrolyse: mithilfe von elektrischer Energie wird Wasser in Sauerstoff und Wasserstoff gespalten – und Letzteres in Methan umgewandelt und dem Erdgasnetz zugeführt.
Bei diesem Zukunftsszenario käme die Elektrizität im Winterhalbjahr zur Gänze von Brandenburger Windfarmen. Den Rest, so haben die Wissenschaftler ausgerechnet, würde Berlin selbst erzeugen – indem es ein Viertel seiner Dachflächen mit Photovoltaikanlagen bestückt.
Strom erzeugen diese Solarpanels freilich auch im Jahr 2050 nur, wenn die Sonne scheint – und hier kommt wieder der Verkehr ins Spiel: Die Machbarkeitsstudie des Senats rechnet, je nach Szenario, dass der Berliner Pkw-Bestand von derzeit noch 1,2 Millionen Autos mit Verbrennungsmotoren auf null schrumpft – und stattdessen bis 2050 zwischen 600.000 bis 800.000 Elektro-Autos in der Stadt unterwegs sein werden.
E-Autos als Stromspeicher
Deren aufladbaren Batterien dienen dann, so stellen es sich die Forscher vor, als Pufferspeicher für das Stromnetz: Immer wenn sie nicht in Benutzung sind – also etwa nachts –, können Sie nach Bedarf ihre Ladung ins Netz einspeisen. „Vehicle to grid“ (Fahrzeug zu Netz) heißt die Technologie.
Klingt abgefahren? Ist technisch längst möglich – nur eben noch lange nicht bezahl- und realisierbar. Elektrische Pkws und Nutzfahrzeuge sind teuer, kaum jemand hat Praxiserfahrung damit.
Das soll sich durch die Arbeit der eMO ändern: Die Berliner Agentur für Elektromobilität wurde von den Ländern Berlin und Brandenburg ins Leben gerufen, um sich im Rahmen eines Förderprogramms der Bundesregierung als „Internationales Schaufenster der Elektromobilität“ zu bewerben.
Die eMO soll Berlins Image als Innovationsstandort aufpolieren und dafür sorgen, dass Elektromobilität von Unternehmen und Privathaushalten stärker genutzt wird. Sie soll die BerlinerInnen quasi anfixen. Dazu dienen derzeit rund 80 Projekte in verschiedenen Entwicklungsstadien. Noch ist von den meisten nicht viel zu sehen, aber das soll sich ändern. Die kontaktlos aufladbaren Busse der Linie 204 werden irgendwann erlebbar sein, auch ein Entsorgungsfahrzeug der BSR, das den Müll leise, weil elektrisch presst.
Die eMO versucht Firmen dazu zu gewinnen, sich die in der Anschaffung teuren elektrischen Fahrzeuge mit anderen zu teilen, um sie wirtschaftlicher zu nutzen – etwa indem sie nachts, wenn das eine Unternehmen sie nicht braucht, von einer anderen Firma gefahren werden.
Ein Kernanliegen der Agentur ist die bessere Ausstattung der Stadt mit Ladestationen. eMO-Chef Gernot Lobenberg will in den kommenden Jahren die Zahl der „Ladepunkte“ von derzeit 400 auf 1.200 Stationen vervierfachen. Betrieben werden diese von Unternehmen wie RWE und Vattenfall, immerhin mit zertifiziertem Ökostrom. Wenn sich die Infrastruktur deutlich verbessert, so die Überlegung, müsste auch die Nutzung irgendwann in Fahrt kommen.
Noch muss man reine Elektrofahrzeuge in der Region mit der Lupe suchen: 1.500 sind zurzeit unterwegs, die meisten gehören Carsharing-Anbietern oder sind Teil von Unternehmensflotten. „Der Anteil an Elektrofahrzeugen ist noch relativ gering“, gibt Lobenberg zu, „aber die Zahl hat sich seit 2012 verdoppelt“.
Bis 2020 könne die 100.000 erreicht sein, gibt sich der Agenturchef zuversichtlich – auch weil es bis dahin durch fallende Batterie- und steigende Ölpreise wohl billiger sei, mit Strom zu fahren. „Bei dieser Größenordnung wäre die E-Mobilität in der Marktwirklichkeit angekommen.“
Um den Berliner Verkehr, der fast ein Viertel der Berliner CO2-Menge emittiert, klimaneutral zu machen, muss natürlich noch viel mehr ge-schehen. Die PIK-Forscher kalkulieren deshalb in ihrer Machbarkeitsstudie mit einem Ausbau des ÖPNV, einem starken Wachstum beim Radverkehr und einer intelligenten Vernetzung durch „intermodale“ Stationen, an denen man bequem von einem Verkehrsträger zum anderen wechseln kann.
Biokerosin aus Algen
Für den Flugverkehr, der den CO2-Fußabdruck vieler Berliner besonders ausladend macht (siehe Grafik), haben die Wissenschaftler zwei recht unterschiedliche Entwicklungen vor Augen: Entweder es gelingt, bis 2050 Biokerosin marktfähig zu machen – es gibt erfolgversprechende Experimente zur Erzeugung aus Algen. Oder aber der fossile Treibstoff lässt sich vorerst nicht ersetzen – was das Fliegen im Rahmen des weltweiten Emissionshandels extrem verteuern und so das Flugaufkommen ganz zwangsläufig wohl auch reduzieren würde.
All das ist zwar noch ferne Zukunft. Berlins Verkehrs-Staatssekretär Christian Gaebler (SPD) sagt trotzdem: „Man muss mit den entsprechenden Maßnahmen doch jetzt rechtzeitig anfangen.“
Der nächste Schritt sei die Verabschiedung des Berliner Energiewendegesetzes „noch in diesem Jahr“. In dem Gesetz soll etwa die klimaeffiziente Sanierung öffentlicher Gebäude festgeschrieben werden – oder auch die Verankerung von Klimaschutz als Unterrichtsstoff in der Schule. 2015 dann, rechtzeitig vor den nächsten Abgeordnetenhauswahlen, will der Senat ein Energie- und Klimaschutzkonzept mit konkreten Maßnahmen beschließen.
Am Ende bringt natürlich das beste Konzept eines klimaneutralen Verkehrs wenig, wenn sich das Nutzerverhalten nicht ändert. Aber da ist Gaebler optimistisch: „Der Verkehrsbereich entwickelt sich in Richtung Flexibilität: Carsharing, Bikesharing, all das läuft ja schon an.“ Gerade bei jungen Menschen verliere das Auto jetzt schon seine frühere Funktion als Statussymbol.
■ Am Sonntag veranstaltet der Allgemeine Deutsche Fahrradclub Berlin (ADFC) die 38. Radsternfahrt. Das diesjährige Motto: „Radsicherheit für Berlin: Freie Radspuren“. Unter anderem fordert der ADFC mehr Radspuren an Hauptverkehrsstraßen und ein entschiedeneres Vorgehen der Behörden gegen Autofahrer, die auf Radspuren parken.
■ 19 Routen mit jeweils verschiedenen Einstiegsmöglichkeiten laufen aus dem Berliner Umland sternförmig auf das Ziel am Brandenburger Tor zu. Für Schnellradler gibt es eine „Expressroute“ von Frankfurt (Oder), hier gilt eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 25 Kilometer/Stunde. Alle Startzeiten und Routen: www.adfc-berlin.de (taz)
Aber ist dann die heutige Verkehrspolitik nicht hoffnungslos überholt – zum Beispiel etwa im Hinblick auf Projekte wie den umstrittenen Ausbau der Stadtautobahn A 100? Das will Gaebler so nicht sehen: „Mit der Frage nach der Klimaneutralität hat das erst mal wenig zu tun, es kommt ja auf die Antriebe an, mit denen gefahren wird.“
Entscheidend sei vielmehr das Gesamtkonzept: „Die Autobahn allein ist sicher nicht klimaschonend. Aber wir verlagern damit Verkehre aus der Innenstadt heraus, und das ist natürlich eine Verbesserung.“
Das sieht PIK-Forscher Reusswig anders. Eine Privilegierung des Autos hält er für nicht sinnvoll: „Wir haben uns in der Studie zum Thema A 100 wohlweislich nicht geäußert, aber ich persönlich frage mich schon, ob Autobahnbau das richtige Signal ist. Man sollte mal über eine E-Bike-Autobahn nachdenken.“
Auf der Pedelec-Autobahn durch Berlin? „Ich bin skeptisch, was dieses Konzept angeht“, sagt Staatssekretär Gaebler und verweist auf Experimente mit Fahrradüberführungen in Holland, „wir sollten die Sünden der 60er Jahre jetzt nicht für die Fahrräder übernehmen“.
Besser gefällt ihm da ein weiteres „Schaufenster“-Projekt der eMO, der „Pedelec-Korridor“, auf dem man möglichst ungehindert durch Steglitz-Zehlendorf bis Teltow fahren kann. „Das heißt aber nicht, dass wir eine Extratrasse durch den Bezirk schlagen“, so Gaebler.
Für den grünen Verkehrspolitiker Stefan Gelbhaar könnte alles noch schneller gehen mit der klimaneutralen Zukunft. „Der Regler für den Radverkehr muss rauf und der fürs Auto runter“, findet er. Und an anderer Stelle hat er ein gewaltiges CO2-Sparpotenzial ausgemacht, das sich erschließen ließe: „Zurzeit fährt die S-Bahn nur zu rund einem Viertel mit Ökostrom.“
Grüne Ringbahn
Seine Fraktion habe den Senat dazu bewegt, bei der anstehenden Vergabe des Ringbahnbetriebs eine Ökostromnutzung von mindestens 50 Prozent verbindlich zu machen. Möglich wäre aber noch mehr gewesen. Und auch die BVG fahre jetzt noch zu weniger als einem Drittel mit grünem Strom. „Dabei wäre sie ein ausgezeichneter Abnehmer für das landeseigene Stadtwerk gewesen, das ja nun in der Größe nicht kommen wird.“
Für Christian Gaebler ist ein grüner ÖPNV zwar wünschenswert, aber unrealistisch: „Im Moment wäre es für die Verkehrsunternehmen noch sehr schwer, grünen Strom ganzjährig zu vertretbaren Fahrpreisen am Markt zu bekommen.“ Eine zu 100 Prozent mit erneuerbarer Energie betriebene S-Bahn – das könne man heute „noch nicht seriös festsetzen“.
Gaebler weiß, dass seine Kritiker gern auf die Hamburger S-Bahn verweisen, die damit wirbt, komplett mit Ökostrom zu fahren. Aber dabei handele es sich lediglich um eine freiwillige Verpflichtung – der Betreiber kann also jederzeit wieder auf konventionellen Strom umsteigen, wenn es ihm wirtschaftlich geboten scheint. „Außerdem ist das gesamte Hamburger S-Bahn-Netz kleiner als das Teilnetz, das wir gerade ausgeschrieben haben“, gibt Gaebler zu bedenken.
Diskussionsbedarf gibt es wohl genug für die nächsten 35 Jahre. Ob Berlin dann tatsächlich an sonnigen Tagen Solarstrom exportiert und ob wir tatsächlich intermodal, emissionsfrei und nahezu geräuschlos durch die Stadt gleiten, kann heute niemand vorhersagen.
Bis zur E-Mobilität, wie Lobenberg sie propagiert, ist es noch ein weiter Weg – und der 204er-Bus soll auch nur ein Jahr lang als Modellprojekt am Rande der öffentlichen Aufmerksamkeit als E-Bus unterwegs sein. Begeisterte Fahrradfahrer hoffen derweil, dass ihre Fortbewegungsart auch ohne nennenswerte Investitionen immer populärer wird (siehe Interview unten).
Ob die Vision einer klimaneutralen Stadt Wirklichkeit wird, liegt letztlich auch in der Hand der heutigen Verbraucher. Grüner Strom fürs Familien-E-Bike also – die elektrische Zahnbürste kann man damit ja praktischerwei-se auch gleich aufladen.