: Wo Europa wirklich kentert
Warum haben die Italiener eigentlich bis 23 Uhr gebraucht, um ihre Stimme für Europa abzugeben – und damit die ganze Angelegenheit unnötig hinauszögert? Eine Antwort findet sich zum Beispiel da, wo Europa anfängt: auf der italienischen Insel Lampedusa.
Um 19 Uhr – ist in einer Reportage der italienischen Tageszeitung La Stampa zu lesen – hatten von 5.189 Wahlberechtigten 761 ihre Stimme abgegeben. Dann aber war die Abendmesse vorbei – und bis Schließung der Wahllokale stieg die Beteiligung auf 26,7 Prozent! Giusi Nicolini, die Bürgermeisterin der Insel, sagt: „Kein einziger Politiker hat bei uns eine Wahlkampfveranstaltung gemacht. Lampedusa ist so sehr zum Symbol geworden, dass es dann, wenn es darauf ankäme, einfach verschwindet.“
Stärkste Kraft auf Lampedusa wurde die europaskeptische 5-Sterne-Bewegung mit 297 Stimmen. Die einzige Kandidatin für das EU-Parlament, die auf Lampedusa lebt, war absurderweise die der separatistischen und rechtsradikalen Lega Nord. Sie gewann sensationelle 18 Prozent, aber nach Europa kommt sie damit trotzdem nicht, ebenso wenig wie Giusi Nicolini, die ihre Partei, der PD von Premier Matteo Renzi, schon vorher aus der Liste gemobbt hatte. „Von hier aus gesehen kann man sich ein anderes, besseres Europa einfach nicht mehr vorstellen“, sagt Nicolini.
Dass die Wahlregeln in Italien nicht durchweg vom Dolce Vita bestimmt sind, ist ein Randaspekt der Giovanni-di-Lorenzo-Doppelwahl-Affäre. Der Chefredakteur der Zeit hatte nämlich bei seinem Auftritt in Jauchs Grube auch erwähnt, dass italienische Wähler ihr Handy abgeben müssen: Sonst bestehe die Gefahr, dass sie in der Kabine ihren Stimmzettel fotografieren – als Beleg, dass sie „das Richtige“ getan, also demjenigen ihre Stimme gegeben haben, der sie gekauft hat: ein Mafioso im Auftrag einer – zumeist, aber leider durchaus nicht immer – rechten politischen Gruppierung. Antonio Iovine, der Camorra-Boss aus Roberto Savianos „Gomorrha“-Land rund um Neapel, hat diese Woche in seinen ersten Aussagen als Kronzeuge die Aktualität dieses Systems bestätigt. Nationale wie lokale Politik würden einzelnen Unternehmen Aufträge zuschanzen. Die diesen verbundenen „Camorristi“ stellten dafür von ihnen kontrollierte Stimmenpakete zur Verfügung. Den Italienern bescherte dieses System, das manche bis auf die Zeiten der Römischen Republik zurückführen wollen, eine vier Jahrzehnte dauernde Herrschaft der Democrazia Cristiana – und als die 1989 ff. zusammenbrach, einen veritablen Krieg der ohne politischen Ansprechpartner verbliebenen Mafia gegen den Staat Italien, seine Kunstschätze und seine Menschen. Dann nahm sich Berlusconi der Sache an, und der Mob hatte wieder jemanden, mit dem er Geschäfte machen konnte.
Aber alles hat seine Zeit, wie es in der Bibel heißt. Und selbst im Wahllokal „Sacra Famiglia“ in der Lombardei, eben in dem Pflegeheim, wo der wegen Steuerbetrugs verurteilte Silvio Berlusconi seinen Sozialdienst ableistet, zieht der alte Fuchs nicht mehr. Bei den parallel zu den EU-Wahlen abgehaltenen Kommunalwahlen bekam seine Partei, Forza Italia, dort genau: 0 Stimmen. Aber dem „Cavaliere“ war es ja auch gerichtlich verboten, Wahlkampf zu machen.
Im EU-Wahlkampf alles gegeben hat hingegen Beppe Grillo, von Beruf Komiker und Charismatiker, Chef der 5-Sterne-Bewegung. Und er hat verloren. Zwar bekam das M5S 21 Prozent, was ja nun kein ganz schlechtes Ergebnis ist; doch der Gradmesser für den Erfolg war der Abstand zu Matteo Renzis PD – und die kam auf historische 40,8 Prozent. Wenn das Ergebnis wäre, dass der M5S wieder sehr viel mehr zur Bürger- und sehr viel weniger zur Grillobewegung wird, dann ist diese Niederlage hoch erfreulich. Grillos Treffen mit Nigel Farage von der rechtspopulistischen britischen Ukip wird hoffentlich zu seinem Bedeutungsverlust beitragen.
Und Renzi? Ein Christdemokrat, der für die Nachfolgeorganisation der ehemals stärksten Kommunistischen Partei Westeuropas erstmals über 40 Prozent einfährt? Den Merkel „Matador“ nennt? Um mit Giovanni Trapattoni zu sprechen: Was wollen Renzi? Beschränken wir uns auf die Probleme, die er lösen muss und die der jüngste Bericht des italienischen Statistikamtes bündelt: (Jugend-)Arbeitslosigkeit auf Rekordniveau, niedrigste Geburtenrate seit 20 Jahren, ein nie zuvor gesehener Braindrain der Jungen, immer mehr Familien am Existenzminimum lebend. 12 Frauen, drei Männer und zwei Kinder aus Nigeria, Syrien und Eritrea, die am Mittwochmorgen im sizilianischen Catania begraben wurden, waren eben danach auf der Suche: einem Minimum an sicherer Existenz. Sie hatten Hoffnung. Dann kenterte ihr Schiff.
AMBROS WAIBEL