Wo der Irrsinn fröhlich galoppiert

LITERATUR Robert Gwisdek, bislang als Schauspieler und Rapper bekannt, hat seinen ersten Roman geschrieben: „Der unsichtbare Apfel“

Ja, der Igor. Das ist schon einer. Hat nicht alle Latten am Zaun oder alle Kerzen im Leuchter, würde man in weniger sensiblen Kreisen sagen. Dafür aber hat Igor ein Problem. Oder auch mehrere. Das wird nicht so ganz klar. Ist jedenfalls kompliziert. Fest steht immerhin: Igor wird blind. Und beginnt ein Experiment. 100 Tage lang schließt er sich ein, will ohne Licht und Klang die Grenzen der Wahrnehmung erforschen – und findet dies und das, ungeborene Kinder und Kreise, die sich drehen. Wie sie sich genau drehen, das hat wahnsinnig viel zu bedeuten. Und alles andere auch. Irgendwie jedenfalls.

Die Songs von Käptn Peng

„Der unsichtbare Apfel“ ist Robert Gwisdeks erster Roman. Aber, wenn man streng sein möchte, nicht sein literarisches Debüt. Sein Geld verdient der 30-jährige Sohn von Corinna Harfouch und Michael Gwisdek wie seine Eltern zwar vornehmlich als Schauspieler, aber er hat in den vergangenen Jahren auch eine recht erfolgreiche Karriere als Musiker lanciert. Als Rapper nennt er sich Käptn Peng und schreibt für die Songs seiner Band Die Tentakel von Delphi, in der auch sein Bruder Hannes spielt, Texte, in denen der Irrsinn fröhlich galoppiert. Käptn Peng ist eine Ausnahmeerscheinung im deutschen HipHop, nicht nur weil er Seiteneinsteiger ist und recht konkurrenzlos, wenn es um intelligente Eloquenz und Wortwitz geht. Sondern vor allem deshalb, weil in seinen Reimen, so Gwisdek selbst in einem seiner Lieder, denkbar konsequent und ohne Rücksicht auf die mentale Gesundheit von Rapper oder Publikum der „Verstand zerfetzt und wieder instand gesetzt“ wird.

Ähnliches hat er nun mit „Der unsichtbare Apfel“ versucht. Der größte Unterschied zu seinen Rap-Texten liegt allerdings nicht einmal im ungleich größeren Umfang des Romanformats, sondern vor allem in der Perspektive. In den Songs, so bestimmt es die HipHop-Tradition, geht Gwisdek als Ich-Erzähler auf Expedition in die eigene Psyche, im Roman schickt er seine Figur Igor in den Wahnsinn. Seltsamerweise geht bei diesem Perspektivwechsel ausgerechnet der Abstand zum Gegenstand verloren – und mit ihm auch die Ironie und der Witz.

Im Roman bleiben nur die seelischen Qualen und die endlosen Schleifen, die der Verstand dreht, wenn er aus der Bahn gerät. Igor, „ein unkonzentriertes Kind“, zählt die Schmutzflecken auf dem Dachfenster oder seine Atemzüge, er verliebt sich in eine Frau, die „eine verborgene Schuld“ trägt, verzweifelt an mathematischen Gleichungen und beginnt mit 23 Jahren „den Bezug zu seiner bisherigen Realität vollkommen zu verlieren“. Da sind Außenwahrnehmung, Albtraumsequenzen und Wahnvorstellungen schon längst nicht mehr auseinanderzuhalten, Igor verlässt seinen Körper und trifft „tanzendes Salz“ und Dämonen, Mädchen, die zu weißer Asche zerfallen, oder „singende Einsen, die in ihrer Summe nur immer wieder Einsen gebären“.

Mit dem Verstand seines Helden gerät auch die Sprache des Autors ins Trudeln: Gwisdek spielt mit avantgardistischen Formen, verwendet Versalien, setzt kurze Gedichte als Kontrapunkte, wechselt in Igors Tagebuch und schreibt schließlich 20 Seiten nur mit dem Buchstaben k voll. Der Traum, in dem Igor seinem Autor über weite Strecken des Buches verloren geht, schreibt Gwisdek, aber war nichts weiter „als eine Collage aus Sinnlosigkeit, ein Bildschlamm aus dem Magen eines Fiebernden“.

Das kann man auch über das ganze Buch sagen. „Der unsichtbare Apfel“ ist mit einiger Wahrscheinlichkeit wohl autobiografisch, immer wieder arg anstrengend, bisweilen auch der reine Kitsch, in seinen besten Momenten aber eine durchaus faszinierende Studie, wie das so abläuft, wenn ein Mensch verrückt zu werden droht. THOMAS WINKLER

Robert Gwisdek: „Der unsichtbare Apfel“, KiWi, Köln 2014, 368 Seiten, 12,99 Euro