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Archiv-Artikel

Detroit

COMING OF AGE Den „Austauschschüler“ trugen wir wie eine Uniform, wir wollten andere Kulturen verstehen

Ulf Erdmann Ziegler

■ Stationen: Ziegler, geboren 1959 in Neumünster/Holstein, schreibt Literatur, Essays und Kunstkritik. Er gewann den Hebbel-Preis und erhielt das Frankfurter Autorenstipendium. Zuletzt erschien der Essayband „Der Gegenspieler der Sonne. Gedankenklötze“ (Wallstein).

■ Silvester: „Wie feiern Sie?“ – „Eine Villa im Burgund, Kamin brennt, Tisch gedeckt, Kinder, Erwachsene, auf jedem Tisch ein Aquarell von Jörg Söchting, das zum Beispiel im Teich grübelt oder die gekappte Platane verehrt.“ Foto: Arne Reimers

VON ULF ERDMANN ZIEGLER

Zum Rudern kam ich, weil ich die Pfadfinderei leid war und Rotary mir auch nicht mehr behagte, was aber zu tun hatte mit dem Verschwinden Falk Blohms. Er war ein natürlicher Pfadfinderführer gewesen, so einer, der La Paloma am Lagerfeuer sang. Er hatte diesen leicht nach oben gerichteten Blick und weit ausfahrende Gliedmaßen, ungefähr das, was bei Jungen als charismatisch galt. Mit Umsicht wählte er die Jüngeren, denen er im Landschulheim als Zimmerältester vorstand. Er brachte uns zeitig ins Bett und ließ uns dann bei Kerzenlicht wieder aufstehen. Kein Führer hätte jemals geschafft, was Falk mühelos gelang: Zwei Minuten später hatten alle die Hosen runter. Falk fasste sie alle an, nur kurz, als wäre es eine Segnung, und putzte später im Dunkeln den Boden, während wir schon wieder in den Betten lagen. Das nannte er Dienst an der Mannschaft. Kein Wort davon am nächsten Morgen, aber es loderte in unseren Köpfen weiter, das Feuer der Neugier, der Puls der Übertretung, die lupenhafte Wirkung von sieben Augenpaaren.

Bei den Rotariern konnte er das nicht machen, das waren Kinder aus den Elbvororten, die hätten alles brühwarm gestanden, am Nussbaumtisch mit Häkeldecke. Mich aber hatte er für den Club vorgeschlagen, und er wusste, warum. Er hatte Schlüssel zur Yacht seines Vaters. Da tauchten wir einmal die Woche unter. Er zeigte mir die Techniken, wie man einen anderen Mann anfasst, dass es Spaß macht und nicht zu schnell geht. Hinterher tranken wir Balle-Rum aus der Flasche. Ich wurde stumm und er erzählte mir Geschichten aus dem Herrn der Ringe. Dann kam seine Verschwörungsphase, Trotzki, Mata Hari, Kennedy. Schließlich hatte er es mit den Wissenschaftlern, einer Gruppe von Psychologen, wie ich zuerst dachte, oder doch eine Kirche, die aus den Rocky Mountains gesteuert wurde; ich habe nicht mehr so genau zugehört. Was natürlich der Fehler war.

Den „Austauschschüler“ trugen wir wie eine Uniform, etwas, das Fragen erübrigt. Wir wussten, dass das nicht wörtlich zu nehmen war. Die ganze Angelegenheit war erfunden worden, um jungen Leute aus Nazideutschland lebensnah eine Demokratie zu zeigen; wir stellten den fünfundzwanzigsten oder dreißigsten Jahrgang des Programms, das sich ausgewachsen hatte zu einer philanthropischen Firma. Wir wollten alle das, was bereits in den Antragsformularen stand und später, als wir genommen worden waren, im Wochenendseminar wiederholt wurde: andere Kulturen verstehen und so weiter. Auch ich habe das gesagt, und wenn man sehr jung ist, sechzehn und das Gesicht noch glatt, gehen einem Allgemeinplätze leicht von den Lippen. Man glaubt die selbst, solange man es braucht.

Das Seminar fand vor Ostern in einer Villa südlich der Elbe statt, die über der großen Straße thronte, die nach Cuxhaven führt. Wir kamen alle aus Hamburg, aus Wandsbek und Barmbek und Eppendorf, das war nicht so wichtig, oder es verblasste gegen die Ziele unserer Reisen: Portland, Oregon; Allentown, Pennsylvania; Greene, Iowa. Es gab bereits Antwortbriefe von Familien, die freimütig über sich Auskunft gaben, über Zahl und Namen der Kinder, die Berufe der Eltern, die Konfession, die Marken ihrer Automobile. Ich selbst hatte von „meiner Familie“, wie es hieß, erst in der Woche zuvor erfahren und versicherte, ihr bereits geschrieben zu haben, nach Ardmore, Oklahoma. Der Brief lag angefangen auf meinem Schreibtisch zwischen monströsen Latein- und Mathematikaufgaben.

Die Sozialpädagogen bemühten sich ernsthaft, unsere Vorstellungen der Vereinigten Staaten zu lockern bis zur Unkenntlichkeit, als ziehe man in ein unbeschriebenes Land, ein weißer Fleck auf der Karte. Sie waren Experten in Klischee und Vorurteil. Sie wollten uns glauben machen, die Erfahrung eines jeden werde unverwechselbar sein. Aber sie wirkten nervös. Niemand erwähnte den Namen Falk Blohm. Erst auf dem Rückweg, in der S-Bahn, kam der Name auf. Ich erinnere mich deutlich an das ratlose Lachen; aber da waren wir unter uns, eine lose Gruppe von Abenteurern, die sich von Neugraben bis Hauptbahnhof in Luft auflöste. Erst am Flughafen würden wir uns wiedersehen.

Die Monate bis dahin verbrachte ich ausschließlich mit Willie. Entweder waren wir im Ruderclub oder im Kino oder bei seiner Mama, die fantastisch kochte und gar nichts dagegen hatte, dass ich „bei Willie“ schlief. Es konnte ihr nicht entgangen sein, wie traurig und verloren Willie gewesen war, bevor er mich kannte, und wie aufgeräumt und tüchtig er war, seitdem wir zusammen waren. Ich half ihm im Englischen, was ein bisschen lustig war, denn Willie war schließlich halber Amerikaner, sichtbar, kakaobraun mit schwarzer Krause. Seinen Vater gab es nur auf einem schwarzweißen Bild, sehr ernst mit weißem Kragen, das ätherische, schmale Gesicht, wie es Athleten haben. Willie war rund und sanft, im Vergleich, aber mit hydraulischen Schultern und stählernen Waden, der Motor unseres Vierers.

Am Rotarierdonnerstag damals, es wäre wieder so weit gewesen, hatte Falk mich wissen, er habe den Schlüssel für die Yacht verloren. Ich durchschaute ihn und war doch erleichtert. Im Herbst darauf, Nixon war weg, aber Falk Blohm war erst recht weg, gab es nicht viele Bewerbungen für das Schülerjahr in Amerika und sie nahmen so ziemlich alle. Mich, zum Beispiel, und Wilfred McGregor, Willie, der mit mir in der Auswahlrunde saß, wo ich ihn zum ersten Mal sah. Die Gruppen waren immer gewürfelt, um zu sehen, ob wir Klassendünkel hatten: wir, die Kinder westlich von der Alster. Willie und ich, wir mochten uns sofort, gingen danach lange zu Fuß, es war Oktober und die Elbe trieb tropfenförmig in die Stadt. Am selben Abend, unten im Portugiesenviertel, lernte ich seine Mama kennen. Man sah ihr an, wie schwer es ihr fiel, Willie für ein ganzes Jahr zu entbehren, und noch vor Weihnachten zog Willie seine Bewerbung für Amerika zurück.

Was das Rudern betraf, kam ich zur rechten Zeit. Willies Vierer hatte gerade seinen Steuermann eingebüßt, einen ehrgeizigen Jungen namens Joachim, der das Team zwar trieb, aber es fehlte das rechte Timing im Spurt. Die Ruderer fanden, dass niemand es jemals können würde wie Blomsky. Blomsky wie Seifenblase, schillernd und passé. Als Joachim aufgab, sprang auch Mecki ab, ein zäher Stiller, und das wurde mein Platz im Vierer, der nun ohne Steuermann fuhr und bald auch wieder im Wettkampf.

Es gab den Tag, an dem ich meiner Mutter sagte, ich würde nicht nach Amerika fahren wollen. Es gab einen Abend bei Willie, an dem ich plötzlich begriff, wer Blomsky gewesen war. Es gab einen Tag, an dem ich Willie mitbrachte an den Klosterstern und meine Mutter später sagte, dass er „aber wirklich ein hübscher Kerl“ sei. Und ich war so dumm zu sagen: ja. Jedenfalls antwortete sie, davor oder danach, das weiß ich nicht mehr, dass ich mich nun einmal entschlossen hätte, nach Amerika zu gehen, und dass es nicht möglich sei, ein solches Vorhaben abzusagen. Als sie das sagte, war es, als würde in meinem Kopf ein Licht angeschaltet. Da wusste ich, dass ich Blomsky zurückholen wollte; dass ich Falk Blohm aufspüren würde in Utah. Ich würde ihn rausquatschen aus dieser Sekte und ihn zurückbringen nach Hamburg. Ohne die Bild-Zeitung, die sein Verschwinden tagelang herumposaunt hatte, nur für uns, für Willie und für mich. Und für den Vierer.

Wir flogen mittags von Fuhlsbüttel direkt nach Detroit, wo wir am frühen Abend landeten. Es waren hundertfünfzig norddeutsche Schüler an Bord, und ich sprach mit keinem. Von meinem Fensterplatz aus wunderte ich mich über die vielen Seen oder Teiche, bis ich erkannte, dass es Swimmingpools in den Vororten waren, für jedes Haus eines. Ich blieb im Flugzeug sitzen bis zuletzt und sah dem Mann zu, der meinen kunstledernen, tannengrünen Koffer verlud. Den hatte mir meine Mutter eine Woche zuvor in den Alsterarkaden gekauft, das Boardcase als kleiner Bruder. Schade um den Koffer, eigentlich. Ich würde ihn für meine Reise nicht brauchen können.

Die direkte Verbindungen hatten, flogen am selben Abend weiter: Seattle, Houston, Los Angeles oder in umgekehrter Richtung Atlanta und Boston. Ein Dutzend von uns blieben am Flughafen zurück. Wir bekamen jeder ein Zimmer und einen Gutschein für das Restaurant.

Da wusste ich, dass ich Blomsky zurückholen wollte; dass ich Falk Blohm aufspüren würde in Utah

Ich öffnete den Koffer und das Boardcase auf dem riesigen Bett und packte in den kleineren Behälter alles, was ich vielleicht würde brauchen können, ein zweites Paar Schuh, eine gelbe Öljacke, eine Kamera, ein Buch. Was fehlte, war ein Schlafsack. Vielleicht hatte man Glück, und die Fahrer nahmen Anhalter mit nach Hause, so wie es die Schweden taten.

Die Lobby des Flughafenhotels schimmerte vornehm in Holz, Messing und Leder. Draußen, vor den automatischen Glastüren, war der Halbkreis einer Vorfahrt grell erleuchtet. Livrierte Schwarze öffneten die Türen von Limousinen mit verdunkelten Scheiben. Ehefrauen setzten Ehemänner ab, die mit schweren, kastigen Aktentaschen im Hotel abtauchten. Die Autos waren erwartungsgemäß riesig, mit gewaltigen, blubbernden Motoren. Manche brachten ein vielschichtiges Säuseln mit sich, beim Halt übertönt vom Heulen einer Ventilation. Kombis waren lang genug, dass man bequem drin hätte schlafen können, zu zweit und zu dritt, sogar. Ein bestimmter Typ Kombi war seitlich mit Holz verkleidet oder einem Material, das eine Maserung suggerierte. Ein kleines, rundes Auto hatte nur gebogene Fenster, als umschlösse die Karosserie einen gläserner Ballon. Wenn Beifahrertüren sich öffneten, sah man automatische Gurte, die am Sitz durch eine Öse geführt wurden und – wenn bei einem Zweitürer der Sitz nach vorn geschwenkt wurde – mit dem Sitz vorwärtsflatterten wie ein loser Saum. Kofferraumhauben öffneten sich automatisch, gähnende Mäuler. Die Motoren wurden nicht abgeschaltet, während die Autos hielten, und fuhren dann davon, als würden sie aus der Ferne magnetisch gezogen.

Am äußeren Ende des Halbkreises, wo die Beleuchtung nur noch indirekt ankam, war eine schwarze Bank aufgestellt, unter die ich mein Boardcase geschoben hatte. So konnte ich jedes Fahrzeug betrachten, das sich in den Halbkreis schob. Manche hatten vorn kein Nummernschild, sodass ich erst, wenn sie an mir vorbei waren, lesen konnte, woher sie waren, aus Ohio, Indiana, die meisten aus Michigan, einige aus Ontario jenseits der Grenze. Man sah keine Fahnen jenseits des Auspuffs, aber die Vorfahrt war, mal mehr und mal weniger, von bläulichen Nebeln durchzogen. Ich schnupperte die Autos wie Hoffnung. Ein Fahrer mit langen Haaren rief mir zu, „Äh Oh-ing“, und ich spannte die Beine an, um aufzustehen, dann rief er noch einmal, aber ich fühlte die Blicke des Livrierten auf mir und zögerte, verstand auch erst, als er schulternzuckend eingestiegen und mit einem Klötern in der Vorderachse davongefahren war, dass er „Where ’you going?“ gerufen hatten, die wichtigste Frage meines Lebens, wenn nicht die einzige in dieser Nacht im August.

Da saß ich einige Stunden und überlegte, wie man in Utah Blomsky finden könnte oder eher in Los Angeles, Scientologen sind schließlich keine Mormonen. Solche Sachen hatte ich mir in der Woche vor dem Abflug in der Staatsbibliothek angelesen. Ich fragte mich, was länger dauern würde, Falk Blohm aufzutreiben oder ein Jahr in Ardmore abzusitzen, wo mein Gastvater als Einkäufer für Lebensmittel in der state penetentiary arbeitete, was das Gefängnis sein musste. Er hatte eine gut gepolsterte Frau mit Locken wie ein englischer Hund und zwei blonde Töchter unter einem stahlblauen Himmel; so viel wusste ich von farbigen Fotos.

Wie auch immer, ich war von Willie fortgeflogen, und je länger ich das Parfüm Detroits atmete, desto weniger konnte ich mich erinnern, was mich hierhergebracht hatte. Ich fühlte mich ausgesetzt in der Mitte Amerikas, eine Bestellung, deren Auslieferung sinnlos geworden war. Als der Hauch einer Dämmerung sichtbar wurde, nahm ich das tannengrüne Köfferchen und legte mich in das riesige Bett, ohne das Restgepäck abzuräumen, in dem ich traumlos versank. Als das Telefon klingelte, hob ich nicht ab, sondern stolperte ins Bad, wo ich mich übergab.