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Archiv-Artikel

Meine Fenster zur Welt

PROTESTE Im Hinterhof eine Idylle, aber von der Vorderseite her dringen die Geräusche von Unruhen in die Wohnung. Eine persönliche Momentaufnahme aus Teheran

Parsua Bashi

■ Stationen: Bashi wurde 1966 in Teheran geboren. Sie studierte Grafikdesign und veröffentlichte ein illustriertes Kinderbuch. Ihre Werke wurden mehrfach ausgezeichnet. 2004 verließ sie den Iran und lebte bis 2009 in der Schweiz. Seitdem lebt sie wieder in Teheran. Der vorliegende Text ist ein gekürzter Auszug aus ihrem neuen Buch „Briefe aus Teheran“ (Kein & Aber).

■ Silvester: „Wie feiern Sie?“ – „Im Iran ist das ein Abend wie jeder andere. Ich werde einen Winterabend mit meiner Tochter verbringen.“ Foto: Anita Affentranger

VON PARSUA BASHI

Ich habe zwei Fenster, das heißt, meine Wohnung hat zwei Fenster. Eines geht nach Süden, das andere nach Norden. Wenn ich am Morgen aufwache, meine beste Tageszeit übrigens, setze ich mich mit einer Tasse Kaffee und einer glimmenden Zigarette vor das große fünfflüglige Fenster meines Schlafzimmers, das sich nach Süden hin auf einen kleinen Hof öffnet. Dort stehen zwei Kakibäume, ein Apfelbaum, zwei Feigenbäume und ein Granatapfelstrauch, die jetzt im Winter kein Laub tragen.

Jeden Morgen, wenn ich aufgestanden bin, nehme ich Hirsekörner und trockenes Brot und werfe beides auf die Fliesen im Hof, dorthin, wohin ich aus dem Fenster sehen kann. Nach und nach kommen die Vögel herbei und picken wachsam die Krümel auf. Es sind Spatzen und kleine bläulich-graue Turteltauben.

Der Wettstreit der Spatzen und Tauben um die Krümel gehört zu den sehenswerten Ereignissen meiner ruhigen Morgen. Eine Tasse Kaffee und eine Zigarette, danach noch einige Tassen Tee, bis die Krümel aufgezehrt sind und die Vögel davonfliegen.

Doch die morgendliche Stille und meine Seelenruhe werden allmählich von den Geräuschen aus dem Fenster auf der Nordseite meiner kleinen Wohnung gestört. Durch das Nordfenster dringen nämlich der Lärm vorbeirasender Mopeds, gelegentlich auch der Alarm parkender Autos, ausgelöst durch die unabsichtliche Berührung eines Vorbeigehenden, die Stimmen weiterer Passanten, die laut in ihre Mobiltelefone sprechen, oder das Geplauder von Kindern auf dem Weg zur Schule. Außerdem erinnern mich die Rufe der Straßenhändler und die anderen Geräusche einer überfüllten hektischen Großstadt daran, dass ich in Teheran lebe. Sie erinnern mich daran, dass ich vom Südfenster meiner Wohnung zum Nordfenster gehen muss, wo mein Schreibtisch steht, dass ich in passender Aufmachung arbeiten muss, wie es sich für eine Bewohnerin dieser Metropole gehört und daran, dass ich meine Aufträge erledigen muss, die allerdings vorhanden sein müssten, damit ich sie erledigen könnte.

Ich entwerfe Buchumschläge für Romane, Gedichte, philosophische Schriften, Literatur sowie Plakate für Theateraufführungen und Konzerte. Normalerweise wird mir die Arbeit von Verlegern, Regisseuren oder Programmgestaltern angetragen, doch im Moment ist das nur selten der Fall. In den vergangenen Jahren, der Ära des Präsidenten Chatami, war das noch anders, da hatten die Grafiker noch reichlich zu tun. Jetzt aber verstauben die Bücher der Verleger in der langen Schlange bei der Zensurbehörde des Erschad, des Ministeriums für islamische Führung und Kultur, während sie auf eine Druckerlaubnis warten. Die Theaterleute geraten ins Schwitzen, wenn sie durch Lektorat und Manipulation ihrer Stücke versuchen, sie der Klinge der Zensur unversehrt zu entreißen. Und die verschlungenen Wege der Filme und Drehbücher sind ein Thema für sich.

Es sind so viele Konzerte und Theaterstücke am Ende abgesetzt worden, dass kein Künstler mehr bereit ist, ein Programm zu bestreiten, an dem staatliche Institutionen beteiligt sind; und beinahe jeder Theater- oder Konzertsalon in Teheran ist auf die eine oder andere Art mit Regierungsstellen verbunden.

Schließlich muss man bei den Ministerien eine Spielgenehmigung einholen, und wenn man nicht auf der Hut ist, kann es einem passieren, dass sie ein Konzert oder Theaterstück, das man unter große Mühen aus eigener Tasche bezahlt und selbst zur Aufführung gebracht hat, für sich requirieren. Dann ist man vor den eigenen Landsleuten blamiert, die in den Monaten nach der umstrittenen Präsidentschaftswahl verprügelt, inhaftiert oder getötet worden sind.

Daher ist es besser, vorläufig nichts zu tun. Glücklicherweise kann man noch immer niemanden dazu zwingen, ein künstlerisches Programm aufzuführen.

Ein Buch zu verlegen ist ebenfalls eine komplizierte Angelegenheit. Bücher sind das kritischste Printmedium in diesem Land – nach den Zeitungen, von denen eine um die andere verboten und deren Produzenten verhaftet oder in die Arbeitslosigkeit getrieben worden sind. Für jedes Buch muss zunächst das Manuskript bei der Zensurbehörde des Erschad-Ministeriums eingereicht werden. Dort lesen es eine Reihe Leute Zeile für Zeile und durchlöchern es mit ihren erbarmungslosen und besessenen Stiften.

Trotz dieser widrigen Umstände gehe ich schließlich und setze mich an meinen Schreibtisch – mit dem Rücken zum nördlichen Fenster. Dieses hat einen Vorhang und ist, im Gegensatz zu dem meines Schlafzimmers, immer verschlossen. Weil meine Wohnung jedoch genau im Zentrum Teherans liegt, kann ich an den Tagen, an denen die Menschen aus Protest gegen die Vorfälle nach der Wahl im Juni 2009 demonstrieren, dennoch ein Teil des Geschehens durch dieses Fenster hören, und wenn ich den Vorhang beiseiteschiebe, auch sehen.

So kann ich den Motorenlärm und die ohrenbetäubenden Sirenen der großen schwarzen oder weißen Polizeifahrzeuge hören, ich kann Revolutionsgarden und aggressive Motorradfahrer in Zivil sehen, maskierte Spezialgarden der Polizei in schwarzer Montur mit Schilden und Knüppeln, Soldaten in grün gemusterten Tarnanzügen mit Knüppeln, die Geräusche patrouillierender Polizeihubschrauber kann ich vernehmen und die Menschen beobachten, die vorsichtig und einzeln, zu zweit oder zu dritt „spazieren“ gehen – wir jedoch erkennen sie und wissen, weshalb sie an diesem Tag auf der Straße sind. Frauen und Männer, Jugendliche und Menschen mittleren Alters in bequemer Kleidung, mit Sportschuhen oder flachen Halbschuhen (die sich zum Laufen eignen), mit Taschen, deren Trageriemen sie gekreuzt über die Schulter gehängt haben (damit sie sie nicht bei der Flucht behindern), und die an warmen Tagen Wasserflaschen bei sich haben.

Die grünen Symbole der Protestbewegung sind noch nicht zu sehen. Die zeigen sie erst, wenn sie sich versammelt haben – wozu nachlässige Augenblicke der Polizeikräfte genutzt werden – und kurz und effizient ihre Parolen rufen. Dann ziehen sie ihre Ärmel ein wenig hoch, um das Zeichen „V“ für Victory zu machen und ihre grünen Armbänder sichtbar zu machen, öffnen die Knöpfe ihrer Jacken und lassen ihre grünen Hemden und Blusen darunter hervorschauen. Sie ziehen grüne Schals aus ihren Taschen und schwenken sie über ihren Köpfen, wenn sie alle gemeinsam „Tod dem Diktator“ skandieren.

In diesen Tagen dringt durch das nördliche Fenster außerdem der Geruch von Tränengas in meine kleine Wohnung. Die Schritte der „grünen“ Jugendlichen und Frauen sind zu hören, wenn sie verfolgt werden und fliehen, und ihre Warnungen an diejenigen, die ihnen entgegenkommen: „Lauf weg, die Polizisten haben uns angegriffen, die Bassidschi prügeln, die Zivilen verhaften …“

In diesen Tagen dringt durch das nördliche Fenster außerdem der Geruch von Tränengas

Die Türen der Wohnungen in meiner Gasse werden geöffnet, um die Flüchtenden hereinzulassen, damit sie Papierschnitzel anzünden und sie sich unter die Nase halten können, bis sich das vom Tränengas verursachte Brennen und die Übelkeit legen und sie auf die Straße zurückkehren können.

Aber auch die ohrenbetäubenden Geräusche der riesengroßen Motorräder der Zivilen und der Bassidschi, der paramilitärischen Miliz Irans, und das Stampfen der bestiefelten Gardisten zusammen mit ihren Schreien bei der Verfolgung der Menschen dringen durch dieses Fenster an mein Ohr. Und sogar mein Herz höre ich klopfen an diesem nördlichen Fenster.

Nicht zuletzt habe ich jedoch auch ein weiteres Fenster, das weder Vorhänge hat noch auf einen Hof voller Bäume führt und das weder nach Norden noch nach Süden zeigt. Ich meine das Fenster meines Computers, das den Blick auf Hunderte iranischer Websites und Blogs eröffnet, die in Zeiten der Straßenkämpfe angesichts fehlender regierungsunabhängiger Zeitungen und Nachrichtenagenturen immer wichtiger werden, allerdings wegen der extrem langsamen Verbindung und der Sperren und Filter der Regierung langsam und nur dank der emsigen Arbeit junger Sperrenbrecher überhaupt zu lesen sind.

Durch dieses Fenster bin ich mit Zehntausenden anderen Fenstern in Iran verbunden, und zwischen den Zeilen ihrer binären digitalen Texte höre ich das Herzklopfen meiner Landsleute, von denen jeder Einzelne ein Berichterstatter seiner Gasse ist. Und Teheran hat viele Gassen. Gassen voller Appartements und Häuser, von denen jedes einzelne Fenster hat, und hinter all diesen Fenstern stehen Menschen, deren Herzen hoffnungsvoll schlagen. Für den Wandel. Für die Freiheit.

Aus dem Persischen von Susanne Baghestani