: Angry Birds
JENSEITS Wie der chinesische Wanderarbeiter Li Da einmal einen Regenwurm vor seiner Hütte fand und danach mit dem Tod auf dem iPad spielte
■ Stationen: Qi Ge wurde 1971 in Schanghai geboren. Er studierte Animationstechnik in den USA und arbeitet bei einer Filmproduktionsfirma als Konzeptdesigner und Drehbuchautor. Viele seiner Texte veröffentlicht er nur im Internet, schrieb aber auch Erzählungen, Sachbücher und einen Roman.
■ Silvester: „Wie feiern Sie?“ – „Ich bin frisch verheiratet und feiere zusammen mit meiner Frau und mehreren befreundeten Familien, die auch ihre Kinder mitbringen.“ Foto: privat
VON QI GE
Li Da mag die Tage, an denen es regnet. Die über seiner Hütte dahinbrausenden Autos machen dann nicht so viel Lärm. Er und seine Familie wohnen direkt unter der Brücke. Auf der einen Seite befindet sich der Fluss, eingefasst von einer Hochwassermauer, auf der anderen die Wand des Brückentragwerks. Dazwischen haben sie sich mit einem Gerüst aus Latten und einer Plastikplane ein Stück Raum abgegrenzt und ihn mit ein paar abgenutzten alten Möbeln ausgestattet. Eine schäbige Behausung, aber Li Da gefällt es hier. Auch weil es ihm gelungen ist, die Stromquelle einer nahe gelegenen Baustelle anzuzapfen. So kann er jeden Abend kochen. Alle Wanderarbeiter von der Baustelle holen sich ihr Essen bei ihm, denn hier kostet sie eine Mahlzeit nur drei Yuan. Fleischstücke gibt es natürlich nur wenige, und klein sind sie außerdem. Das liegt nicht nur an Li Da, was kann er schon dafür, dass der Preis für Schweinefleisch ständig steigt! Allerdings schöpft er sich, wenn er das Fleisch kurz angebraten hat, immer heimlich eine kleine Kelle davon in seine eigene Schale und gibt dann erst eine große Menge Reis, Chinakohl, Karotten oder anderes Gemüse zum Fertigdünsten in den Topf.
Gegen sechs Uhr werden seine Frau Meili und sein Sohn zurückkommen. Meili arbeitet in einem benachbarten Wohnviertel als Angestellte auf Stundenbasis. Anders als aus Li Da kann aus ihr noch etwas werden. Auch nach einem ganzen Arbeitstag ist sie noch blitzsauber und riecht auch nicht nach Speiseöldunst. Ihr Sohn Xiaoqiang geht noch auf die Grundschule, aber die Schulgebühren sind dermaßen hoch, dass Li Da beschlossen hat, ihn wieder herunterzunehmen. Nach dem chinesischen Neujahrsfest wird er ihn zurück in ihren Heimatort bringen, wo Verwandte eine Motorradwerkstatt eröffnet haben. Da soll der Junge mal auf Probe anfangen. Dass sie ihm nichts zahlen können, macht nichts, solange sie für seine Verpflegung sorgen.
Als Xiaoqiang heute zurückkommt, legt er sich gleich hin und zieht die Bettdecke über den Kopf. In der Schule haben ihn seine Mitschüler tyrannisiert, erklärt Meili. Einer von denen hat ihn geohrfeigt, die Abdrücke der fünf Finger sind jetzt noch auf seiner Wange zu sehen. Heb den Kopf, sagt Li Da, aber Xiaoqiang weigert sich hartnäckig. Li Da gibt ihm einen Schlag auf den Hintern, worauf Meili wütend wird: Wenn du jemand wärst, dann hättest du deinem Sohn längst ein iPad kaufen können. Er wollte mit dem der anderen Kinder spielen, aber die haben ihn nicht rangelassen. Weil er nicht nachgegeben hat, hat er die Ohrfeige kassiert. Li Da muss hundert Fragen stellen, bis er begreift, was ein iPad ist: ein einfaches flaches Brett, für das man doch tatsächlich fünftausend Yuan hinblättern soll! Wenn man mit den Fingern irgendwelche Bewegungen auf seiner Oberfläche macht, opfert ein Vogel sein Leben, um sich auf ein Schwein schießen zu lassen. Den Erfindern von dem Ding ging es offenbar zu gut, denkt Li Da.
Meili wäscht Xiaoqiang das Gesicht, dann kümmert sie sich um das Essen. Während sie darüber klagt, dass sie sich jeden Tag weniger Fleisch leisten können, kippt sie die Fleischstücke aus der Schale in den Topf, wärmt sie auf und fügt noch etwas Weißkohl und ein paar Mohrrüben hinzu. Heute bläst ein starker Wind, und Regen schlägt klatschend gegen die Plastikplane. Nach dem Essen macht Xiaoqiang über den improvisierten Tisch gebeugt seine Hausaufgaben. Li Da späht durch einen Riss in der Plane nach draußen. Er erblickt einen Regenwurm, der sich mit aller Kraft über den Zementboden vor ihrer Hütte windet, während er mit seinem Kopf unentwegt nach einer Stelle sucht, an der er zurück ins Erdreich kann. Hier gibt’s keinen Schlamm, nur Zement. Am besten, du lässt dich vom Regen durchtränken, bis du dich in Brei verwandelt hast. Dann brauchst du nicht mehr zu suchen, spricht Li Da tonlos zu dem armen Geschöpf. Als es kurz darauf seinen Kampf aufgibt, überläuft Li Da ein kalter Schauer. Früher oder später, das spürt er, wird er selbst sein wie dieser Wurm und zu Brei werden. Doch plötzlich ist das Tier verschwunden. Li Da muss sich erst umblicken, bevor er bemerkt, dass es jemand aufgehoben hat: ein von Kopf bis Fuß schwarz gekleideter Mann mit einem aufgespannten schwarzen Regenschirm. Der offenbar noch lebende Wurm zuckt ein paarmal in seiner Hand. Sicher wird er ihn als Köder zum Angeln verwenden. Diese Stadtmenschen wissen, wie sie ihre Freizeit genießen können. Doch am Ende wirft der Mann den Wurm in ein seitliches Gebüsch. Vermutlich ein Buddhist, denkt Li Da jetzt. Ohne dass der Mann bemerkt, dass er beobachtet wird, steigt er eine Treppe zur Hochwassermauer hinauf, blickt kurz auf das Wasser unter sich und springt dann, ohne zu zögern, in aller Seelenruhe hinab.
Für einen Moment ist Li Da wie erstarrt, dann aber reißt er mit einem lauten Schrei die Plane hoch und stürmt nach draußen. Unter den erschrockenen Rufen Meilis und Xiaoqiangs erklimmt er in Windeseile die Mauer. Heftig brandet ihm das hohe Wasser entgegen. Von dem Mann ist keine Spur mehr zu sehen, er sieht nur ein Boot mit schwarzer Persenning, das am Ufer angelegt hat. Li Da brüllt aus Leibeskräften, da schält sich aus der Persenning auf Höhe des vorderen Laderaums eine Gestalt. Es ist der Mann von eben, der mit dem Regenschirm. Haben Sie gesehen, dass jemand in den Fluss gesprungen ist, fragt ihn Li Da trotzdem. Dieser Jemand war ich, nichts passiert, gibt der Mann zur Antwort. Li Da wischt sich Wasser aus dem Gesicht. Gerade will er dem Mann ein Schimpfwort an den Kopf werfen, als er einen Regentropfen direkt ins Auge bekommt. Schnell fährt er mit der Hand darüber, verliert dabei aber das Gleichgewicht, rutscht aus und fällt kopfüber in die Tiefe.
Spät in der Nacht, als Wind und Wellen zur Ruhe gekommen sind und der volle Mond am Himmel steht, hat das Boot mit der schwarzen Persenning das offene Meer erreicht. Automatische Schiebetüren haben die Kabine an allen Seiten verriegelt. Drinnen ist es warm wie im Frühling. Aus einem Räuchergefäß dringt der Duft von Engelwurz und Beifuß. Das Erste, was Li Da sieht, als er langsam wieder wach wird, ist der Fremde, der auf ein paar Knöpfe drückt, worauf der Teppich langsam beiseitegleitet, der Kabinenboden sich in der Mitte teilt und eine darunterliegende Badewanne freigibt. Auf dem dampfend heißen Wasser schwimmen Kalmusgras, wilde Pfefferminze, Eukalyptus- und Maulbeerblätter. Der Mann zieht sich aus und gleitet hinein. Seine Haut ist so weich und weiß, dass er Li Da eher an ein riesiges Stück Luxusseife erinnert als an einen Menschen. Auf einen einladenden Wink hin zieht auch er sich aus und steigt ins Wasser, das, wie er entdeckt, in Bewegung ist, weil von unten zwischen seinen Beinen noch heißeres Wasser dazuströmt.
Dies ist ein Fährboot, das die Seelen ins Jenseits bringt, hebt der Fremde schließlich an. Ich bin der Fährmann. Willst du hier bleiben und mich bei meiner Arbeit unterstützen? In diesem Fall brauchtest du dir um Essen und Kleidung nie wieder Sorgen zu machen. Und auch eine eigene warme Kabine könntest du beziehen. Dürfen Meili und Xiaoqiang denn auch mitkommen?, fragt Li Da erregt. Doch der Fährmann schüttelt den Kopf. Der Tod, sagt er, lässt nicht mit sich handeln. Er nimmt ein iPad zur Hand, das neben dem Beckenrand liegt, startet „Angry Birds“ und fängt an, mit den kleinen Vögeln die Schweine anzugreifen, wobei er Li Da immer wieder zuzwinkert. Li Da hat sofort verstanden, wie das Spiel funktioniert. Plötzlich spürt er, wie der Boden unter seinen Füßen nachgibt und eine eiskalte Hand nach seinem Körper greift. Rasch denkt er an Xiaoqiang, doch für einen Gedanken an Meili ist keine Zeit mehr, denn schon schlägt das hereinströmende Meerwasser über ihm zusammen.
Am frühen Morgen stoppt ein Wagen der Expresszustellung vor Li Das Hütte. Als er wieder abgefahren ist, hält der verdutzte Junge ein fabrikneues iPad in der Hand. Hinter ihm sitzt seine weinende Mutter. Umringt von einigen Wanderarbeitern, lässt sie ihrem Schmerz freien Lauf.
Aus dem Chinesischen von Frank Meinshausen