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Archiv-Artikel

Die Biografie einer estnischen Frau

SELBSTVERSTÄNDIGUNG Es ist wichtig, narrative Stille zu unterbrechen. Ein Essay über die Probleme, die entstehen, wenn keine passenden Geschichten über Weiblichkeit und nationale Identität existieren

Sofi Oksanen

■ Stationen: Oksanen, geboren 1977, ist Tochter einer estnischen Mutter und eines finnischen Vaters. Sie studierte Dramaturgie an der Theaterakademie von Helsinki. Ihr Roman „Fegefeuer“, monatelang Nummer eins der finnischen Bestsellerliste, verkaufte sich in Finnland so gut wie „Harry Potter“ und wurde vielfach ausgezeichnet. In Deutschland ist der Roman bei KiWi erschienen – und ein großer Erfolg. Oksanen lebt in Helsinki. Foto: Verlag

VON SOFI OKSANEN

Häufig werde ich gefragt, ob ich mich mehr als Finnin oder als Estin sehe. Ich kann die Frage nicht beantworten. Finnen akzeptieren dies jedoch nicht, sondern verlangen wenigstens eine Prozentangabe: wie viel Prozent estnisch, wie viel finnisch.

Meine estnische Mutter zog vor meiner Geburt aus dem Sowjet-Estland nach Finnland. Mein finnischer Vater war mehr als ein Vierteljahrhundert beruflich in verschiedenen Teilen der Sowjetunion unterwegs. Ich verbrachte die Sommer meiner Kindheit bei meinen Großeltern auf dem Lande im sowjetischen Estland, einem Gebiet, das für Ausländer verboten war. Die Schule habe ich in Finnland besucht und ich schreibe auf Finnisch.

Finnisch oder estnisch – diese Frage beinhaltet die Annahme, dass man sich mehr als das eine von den beiden fühlt. Sie beinhaltet die versteckte Forderung, sich seine Seite auszuwählen. Man soll mehr eines von beiden sein. Und lieber mehr von der Nationalität, die der Fragesteller oder die Fragestellerin vertritt.

Nach dem Mythenforscher Roland Barthes sind Mythen ein Instrument der konservativen Machtausübung, die gebraucht werden, um seinen eigenen Platz in der Geschichte zu definieren. Eine Nation braucht sie, um ihr Selbstbild über ihren Ursprung und ihre Beziehungen zur übrigen Welt zu bestimmen. Ist die nationale Identität auf beiden Seiten des Finnischen Meerbusens so vage, dass sie keine Uneindeutigkeiten aushält und das Sitzen zwischen den Stühlen nicht erlaubt? Oder wäre das Sitzen zwischen den Stühlen möglich, wenn die Migranten zweiter Generation mehr öffentliche Geschichten hätten?

Die ehemaligen Sowjetfrauen im Westen haben keine öffentliche Geschichte – und Estland sollte ja jetzt zum Westen gehören. Der Frauenhandel in Osteuropa ist ein Thema, das sogar die westliche Filmindustrie erreicht hat, aber positive Geschichten über Frauen aus den früheren Sowjetstaaten gibt es immer noch nicht. Die neuen westlichen Geschichten handeln immer von Kriminalität und Prostitution und sie erwecken im Westen Mitleid und verstärken das Gefühl des Besserseins, das Finnen gegenüber Estland in der sowjetischen Besatzungszeit verspürten. Die Geschichtsbücher vermitteln eine nationale Identität, aber anders als meine Altersgenossinnen empfand ich sie als Täuschung, in ihr fehlt das Land meiner Mutter. Sie lehrten uns Geschichte, die durch sowjetische Narration gefärbt war, die ich als Desinformation und als Propaganda identifizierte, auch wenn dies nicht laut gesagt werden durfte.

Narrative Stille

Die Doktorarbeit von Annika Oksanen „Siirtolaisena Singaporessa“ („Als Migrantin in Singapur“, 2006) behandelt das Leben von finnischen Frauen, die wegen der Arbeit ihrer Männer nach Singapur gezogen sind. In Finnland wurde bisher das Leben von Frauen auf Gattinnenposten nicht untersucht. Obwohl das Thema von Oksanens Arbeit das Leben von Finninnen in Asien ist, habe ich in der Arbeit viele Gemeinsamkeiten mit meiner Kindheit gefunden.

Ähnlich meiner Mutter sind diese Frauen einer fremden Kultur ausgesetzt, allein zu Hause mit ihren Kindern, während der Mann ständig in weit entfernten Ländern unterwegs ist. Wichtiger als die Abwesenheit des Mannes ist für den Zustand der Frauen jedoch der Verlust ihrer Erwerbsarbeit. Nach Oksanen sind die finnischen Frauen, die unter dem Imperativ der Erwerbsarbeit und der Fähigkeit, für sich selbst zu sorgen, erzogen worden sind, ein Kennzeichen der nationalen Unterscheidung – diese Fähigkeit ist für sie der Maßstab der Gleichberechtigung in der Welt. Dies kann ein Grund dafür sein, dass die Erfahrungen der Migrantinnen in Singapur die Forschung und Medien nicht interessiert haben: Eine Finnin, die als Hausfrau nach Asien zieht, passt nicht in das finnisch-nationale Image.

Aus dem gleichen Grund war die Geschichte einer Sowjetfrau, die nach der Eheschließung in den Westen zog, nicht interessant. Sie war die Nichtgeschichte sowohl für die Finnen, die in der Sowjetunion ihr Ideal sahen, als auch für Sowjetmenschen, denn sich selbst zu ernähren und die Liebe zum Sozialismus waren Imperative für sowjetische Frauen.

Meine Mutter bekam die Ausbildung einer Sowjetfrau, die im Arbeitsleben, auch in männerdominierten Bereichen, gleichberechtigt war. Als meine Mutter, Diplomingenieurin und Ökonomin, nach Finnland zog, war sie nicht mehr gleichberechtigt im Arbeitsleben und sorgte nicht mehr für sich selbst, sondern sie hatte mal befristete Jobs, mal war sie Hausfrau, beides Positionen für eine Ehefrau, die in der Sowjetunion unbekannt waren. In Finnland, das die Gleichberechtigung nominell idealisierte, war eine weibliche Ingenieurin damals ein unbekanntes Wesen. Trotz des Kooperations- und Beistandspaktes war die sowjetische Ausbildung in Finnland nicht anerkannt. Die finnische Frau ernährte sich selbst, ebenso die sowjetische Frau in ihrer Heimat, aber nicht die aus der Welt der Sowjetfrauen nach Finnland gezogene Estin, die in Finnland für eine Russin gehalten wurde. Wie hätte ich die Weiblichkeit in Finnland als gleichberechtigt sehen können? Meine Mutter, die in die estnische Kleiderkultur hineingeboren war, entfernte in Finnland ihre Röcke aus dem Kleiderschrank, denn die finnische Frau war so gleichberechtigt, dass sie nur Hosen trug.

Oksanen zeigt in ihrer Dissertation, dass die Gattinnen in Singapur keine öffentliche Geschichte haben, eine Geschichte, die die subjektiven Bedeutungen in größeren kulturellen und institutionellen Geschichten verbindet. Die Soziologin Margaret Somers nennt dies eine narrative Stille. Sie beschädigt das Individuum, denn sie verhindert, dass ein Subjekt konstruiert werden kann: Das, was ein Mensch überhaupt über das Leben weiß, ist die Folge von einer großen Menge von öffentlichen Geschichten, in die man seine jeweilige Lebenssituation hineinversetzen kann.

Vielleicht wurde ich Schriftstellerin nicht nur, weil ich inmitten von offiziellen und nichtoffiziellen Wahrheiten aufgewachsen bin, sondern auch, weil es für mich keine passenden öffentlichen Geschichten über Weiblichkeit und nationale Identität gab. Ich musste meine eigene weibliche Geschichte und Identität selbst schaffen, ich muss sie immer wieder selbst aufschreiben.

Schweigen als Terror

Die postkoloniale Literatur fehlt fast gänzlich in der finnischen Literatur, und auch die Literatur mit Migrationshintergrund ist spärlich vorhanden. Ich bin die einzige finnisch-estnische Schriftstellerin. Im Gegensatz dazu haben die emigrierten Esten seit den 1920er Jahren insbesondere in Schweden fleißig ihre Memoiren veröffentlicht.

Das Schweigen und das Zum-Schweigen-Bringen sind Formen von Terror und als solche effektiv. Bis zur Unabhängigkeit war es den Esten verboten, über ihr Leben öffentliche Geschichten, die wichtig für die Bildung des Subjekts gewesen wären, zu erzählen. Es gab lediglich politisch korrekte Geschichten, die das Erlebte nicht wiedergaben. Ähnlich waren auch die Geschichten über die Esten in Finnland.

Als das Gefüge der Sowjetunion Ende der 1980er Jahre zu bröckeln begann, förderten die Esten erstmalig ihre unterdrückten Erinnerungen ans Tageslicht. Diese Memoiren waren für mich wichtig, denn damit sah ich endlich gedruckten Text über die erlebte, verschwiegene Erinnerung. In meiner Kindheit wurde darüber nur innerhalb des engsten Familienkreises gesprochen, und dabei wurden Euphemismen wie „wurde nach Sibirien gebracht“ und „ging in den Wald“ benutzt. Erst als Erwachsene lernte ich über die sibirischen Gulags und die Besatzung zu sprechen, über Erlebnisse, für die es davor keine Begriffe gab. Es hatte nur das Gefühl geherrscht, dass der Zweite Weltkrieg im Land meiner Mutter nie beendet worden war.

Ich war deshalb nie frei von einer kulturellen Dysphasie, der Schwierigkeit, Klarheit über die eigene Lebenssituation außerhalb des eigenen erlebten Lebenskreises zu schaffen. Aber es gibt auch noch weitere Gründe dafür. Meinen Erfahrungen fehlten nicht nur die Geschichte, sondern auch die Wörter und die Sprache. Meine Mutter sprach zu Hause kein Estnisch mit mir, was viele Finnen, besonders die weiblichen, erschüttert. Dies war nicht grausam und auch war meine Mutter nicht die einzige Estin, die sich so verhielt. Manche russischen Frauen tarnen sich als Finninnen, indem sie sich einen finnischen Vornamen zulegen, damit ihre Kinder nicht in der Schule gemobbt werden.

Auch war ich nicht von einer festen Gemeinschaft von estnischen Migranten umgeben. In anderen Ländern stehen die Esten in engerem Kontakt zueinander, aber in Finnland sind sie nicht vernetzt. Anders als in Schweden gab es in Finnland keine während des Zweiten Weltkriegs hierher geflüchteten Esten, weil Finnland die Auslieferung der Flüchtlinge an die Sowjetunion erlaubte, was die Flüchtlinge aus Finnland weiterreisen ließ. Auch Finnlandisierung und „Taistolaisuus“, (eine moskautreue, kommunistische Strömung in der finnischen Linken, Anmerkung der Übersetzerin) bewirkten, dass es keine Gegengeschichten zu der Sowjetnarration gab.

Die Spuren der Sowjetgleichberechtigung

Es gibt wenig Untersuchungen über die Situation der estnischen Frauen. Es gibt keine etablierte Frauenforschung im Land, geschweige denn eine Queer-Forschung. Als ich die Arbeit an meinem Erstlingsroman „Stalinin lehmät“ („Stalins Kühe“) 2001 begann, habe ich Informationen über Essstörungen in Estland gesucht, aber es gab keine. Ein halbes Jahrhundert sowjetischer Besatzung und sowjetischer Gleichberechtigung bedeutet praktisch, dass der Begriff Gleichberechtigung eine andere Bedeutung für die estnischen als für die westlichen Frauen hat.

Es gibt eine große, mythische Geschichte der estnischen, starken und selbständigen Frau, und ein Paradoxon ist, dass diese Geschichte auch die Gleichberechtigung beinhaltet. Der estnischen Feministin, Forscherin und Journalistin Barbi Pilvre zufolge vergleichen die estnischen Frauen sich gern mit den gleichberechtigten skandinavischen Frauen. Sie vergessen jedoch, dass die Geschichten der Skandinavierinnen und der estnischen Frauen völlig verschieden sind.

Wenn die estnischen Frauen so gleichberechtigt wären, wie sie es sich vorstellen, wäre bei den Finninnen und Finnen nie die Stereotypie der käuflichen, sich prostituierenden, estnischen Frau entstanden. Die jungen Estinnen wären nicht eine Risikogruppe des Menschenhandels, und sie würden Abtreibung nicht für eine Verhütungsmethode halten.

Estland erlebte – ähnlich wie die gesamte Sowjetunion – nicht den Feminismus der zweiten und dritten Welle. Im Westen wurde seit den 1960er Jahren über Vergewaltigungen, sexuelle Belästigung, die Bedeutung von Erfahrungen von Frauen, die ungleiche Verteilung der Hausarbeit, die schlechte Stellung der Frauen am Arbeitsplatz diskutiert – diese Themen sind neu in den ehemaligen Sowjetländern. Als der Feminismus sich im Westen institutionalisiert hatte, war Frauenforschung in den Exsowjetländern noch ein unbekanntes Wort. Während der Westen bereits den postmodernen Feminismus hinter sich gelassen und die Fragmentierung der Identität akzeptiert hat, beharren die estnischen Frauen auf den essenzialistischen Inbegriffen der Weiblichkeit, die sie nicht aufgeben wollen, denn sie werden gestützt von dem Mythos der betörenden Schönheit der estnischen Frau.

Das Transferieren des westlichen Feminismus nach Estland oder in andere postsowjetische Länder gelingt nicht. Die gesellschaftliche Situation und die Geschichte sind völlig andere, daher kann die estnische Frauenbewegung nicht von einer gleichen Situation wie in den 60er Jahren im Westen ausgehen. Da die politische Lage im Moment angespannt ist und die Einheit der Nation für wichtig erachtet wird, reckt die Xenophobie ihren Kopf in Estland und dies betrifft auch die Xenophobie gegen westliche Ideen.

Die besetzte Frauenbewegung

Die estnischen Frauen haben mehrere Besatzungen erlebt. Zuerst sorgten dafür die baltendeutschen Gutsherren. Die Sklaverei der Leibeigenen hielt sich bis ins 19. Jahrhundert. Eine kurze Phase der Unabhängigkeit wurde mit der sowjetischen Besatzung beendet. Hierauf folgten die deutschen Besatzer, gefolgt von einer ein halbes Jahrhundert dauernden sowjetischen Okkupation. Und hieran schloss sich der Aufbau einer ganz neuen Gesellschaft an. Nach der erneuten Unabhängigkeit kam das finnische Geld, und die Esten waren gezwungen, dem Landerwerb durch Ausländer in Estland gesetzliche Grenzen zu setzen. Finnen benahmen sich in Estland lange wie Kolonialherren. Zusätzlich zur Sowjetpropaganda belasten Schnaps und Sextourismus die Beziehungen zwischen Estland und Finnland. Estland ist ein altes Kulturland mit Universitäten und Cafehäusern. Diese Seite Estlands geriet mit der Besatzung in Vergessenheit, und Estland mutierte für die Finnen zu einem Land, in dem man eine Frau mit ein paar Strumpfhosen kaufen kann. Erst seit kurzem sind die Finnen nicht mehr die größte Kundengruppe in den Bordellen Estlands. Auch sind die Thaifrauen an den Estinnen in der Rangliste der Importbräute vorbeigezogen. Die Russinnen führen weiterhin die Liste an.

Obwohl die Auffassungen sich geändert haben, sitzen Stereotypien doch tief. Während früher gemutmaßt wurde, dass die Estinnen „Hurengene“ besitzen würden, sehen die gewöhnlichen Finnen heute eine Verbindung zwischen der Schönheit und den Genen. Dies wird mithilfe der Geografie begründet: Weil die Finnen sich nur untereinander fortgepflanzt haben, konnten Finninnen nicht gleich schöne Gesichter und lange Beine bekommen wie die Estinnen, die über Jahrhunderte niedergetrampelt wurden.

In der Sowjetunion kannte man offiziell keine Prostitution. Daher ist die Diskussion über Prostitution ziemlich neu in Estland. Dasselbe gilt für den Menschenhandel, obwohl es die sozioökonomische Lage des Landes mit sich bringt, dass es verlockend für junge Menschen ist, im Ausland zu arbeiten, und dies eng mit dem Menschenhandel verbunden ist.

Im Jahr 2002 wurde in einer Untersuchung von Marion Pajumets herausgefunden, dass fast alle estnischen Gymnasiastinnen unabhängig von ihrem sozioökonomischen oder ethnischen Hintergrund im Ausland Arbeit suchen wollten. Diese Frauen empfanden, dass sie wegen ihres Geschlechts größere Schwierigkeiten hätten, eine Beschäftigung in Estland zu finden. Ein Teil von ihnen war bereit, unter jeglichen Bedingungen im Ausland zu arbeiten, wenn nur der versprochene Lohn gut genug wäre. Viele der Befragten kannten jemanden, der in die Hände von Menschenhändlern geraten war, aber dies beeinflusste ihren Abreisewillen nicht.

Die Soziologin Iiris Pettain fand 2006 heraus, dass jede siebte Frau im Alter von 15 bis 29 Jahren in Estland Ziel einer Anwerbung als Prostituierte geworden ist. Unter den estnischen Russinnen war es jede dritte, unter den ethnischen Estinnen jede zehnte. Während fünf Jahren wurde 13 Prozent der in Estland lebenden Frauen im Alter von 15 bis 74 Jahren der Vorschlag zum Verkauf von Sex gemacht.

Je mehr Gelegenheiten für die Aufnahme der Sexarbeit bestehen, je öfter diese zur typischen Geschichte der estnischen Frau im Ausland wird, desto niedriger ist die Hemmschwelle zur Aufnahme der Tätigkeit im Sexgewerbe. Auch deshalb muss man die narrative Stille unterbrechen und die realen Geschichten erzählen.

Aus dem Finnischen von Marja-Terttu Ruokamo