„Auf der Piazza wollte man einen Toten“

Der mutmaßliche Todesschütze von Genua meint, dass Carlo Giuliani von einem bisher Unbekannten erschossen wurde

ROM taz ■ „Killer! Willkommen unter den Mördern!“ Die Stimmung war ausgelassen am Abend des 20. Juli 2001 unter den Carabinieri, die während das G-8-Gipfels auf dem Messegelände von Genua Quartier bezogen hatten. Sie feierten einen Helden: Mario Placanica, jenen 19-jährigen Kollegen, der wenige Stunden vorher auf der Piazza Alimonda den Demonstranten Carlo Giuliani erschossen haben soll.

Es war Placanica selbst, der letzte Woche erst einer Zeitung und dann dem italienischen Fernsehen von der fröhlichen Feier erzählte. Mit einem Barett der Elite-Einheit Tuscania sei er geehrt worden, berichtete Placanica. Und dann fügte er noch eine sensationelle Mitteilung hinzu: Er selbst glaube nicht daran, dass der von ihm abgegebene Warnschuss bloß deshalb Giuliani getötet habe, weil das Projektil durch einen fliegenden Stein abgelenkt worden war. Das hatte ein ballistisches Gutachten ergeben – mit der Folge, dass das Verfahren gegen Placanica schnell niedergeschlagen wurde.

In Wirklichkeit sei Giuliani von einem anderen Schützen, der sich neben dem Carabinieri-Jeep auf dem Platz befunden habe, getötet worden. Details weiß Placanica nicht zu liefern, aber dieses Drama habe sich nicht zufällig ereignet: „Auf der Piazza Alimonda wollte man einen Toten.“ Wer „man“ ist, erschließt sich auch aus den Einlassungen des Polizisten: Placanica berichtet von völlig aufgeputschten Kollegen, die Demonstranten blutig schlugen. Und von einem Einsatzleiter, der mit dem Tränengasgewehr in Kopfhöhe auf die Demonstranten feuerte.

Placanica gilt jedoch als schlechter Zeuge: Allzu oft hat er in den letzten Jahren seine Darstellung der dramatischen Momente auf der Piazza Alimonda geändert. Die Staatsanwaltschaft Genua ließ denn auch letzte Woche postwendend wissen, sie denke gar nicht daran, ein neues Verfahren einzuleiten. Und doch decken sich Placanicas Auskünfte in vielen Punkten fatal mit dem, was nicht nur Demonstranten, sondern auch unbeteiligte Journalisten von jenem Blutnachmittag in Genua berichten.

Schon in den Stunden vorher hatte die Polizei an zahlreichen Kundgebungsorten brutal durchgegriffen – gegen brave Katholiken ebenso wie gegen militante Gewerkschafter. Jedes Mal war der Vorwand die Hatz auf den schwarzen Block gewesen: einige hundert Jugendliche, die an jenem Tag eine Spur der Zerstörung durch Genua zogen. Doch das Muster der Polizeieinsätze war jedes Mal gleich: Die Beamten ließen den „Black Block“ ungehindert abziehen – um dann die am Rande stehenden friedlichen Demonstranten zu verprügeln und mit Tränengas einzunebeln.

Die schwersten Straßenschlachten hatten sich rund um die Demonstration der „Disobbedienti“ ergeben. Jene „Ungehorsamen“, eine lose Bewegung, die in den italienischen Besetzten autonomen Zentren entstanden war, setzten auf die symbolische Konfrontation mit der Staatsmacht. Ebenfalls symbolisch wollten sie die „rote Zone“, die völlig abgesperrte Innenstadt von Genua, stürmen.

Doch zu deren Zaun drang die genehmigte Demonstration gar nicht vor: Aus heiterem Himmel schlugen die Carabinieri zu, verschossen hunderte CS-Gas-Granaten, kesselten die Demo ein. Ein enger Schlauch, rechts ein Bahndamm, links Häuser und die wenigen Seitenstraßen von Polizei abgeriegelt: In dieser Situation befanden sich etwa 10.000 Ungehorsame. Mehr als zwei Stunden zog sich die Straßenschlacht hin, bis es zu dem tödlichen Vorfall auf der Piazza Alimonda kam.

Wiederum war es Mario Placanica, der vergangene Woche die entscheidenden Frage aufwarf: Warum griffen die nur wenige Meter entfernt herumstehenden starken Polizeieinheiten nicht ein? Warum sahen sie zu, wie die Demonstranten auf den Jeep losstürmten – um dann sofort nach den tödlichen Schüssen den Leichnam Giulianis zu umstellen und Fotografen brutal mit dem Schlagstock abzudrängen?

Diese Fragen spielen derzeit in einem in Genua laufenden Prozess die zentrale Rolle. Angeklagt sind 26 Demonstranten – einige gehören zu der Gruppe, die den Jeep auf der Piazza Alimonda zu stürmen versuchte – wegen Landfriedensbruchs und „Verwüstung“. Ihnen drohen bis zu 15 Jahre Haft. In ihrer Verteidigung setzen sie auf die Rekonstruktion des von der Staatsmacht geschaffenen Gewaltklimas während des G-8-Gipfels. Bisher mussten die Angeklagten auf die Unterstützung des Zeugen Placanica verzichten: Er hatte vor gut einem Jahr vor Gericht von seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch gemacht. Doch jetzt kündigte er an, er wolle „mit der Familie Giuliani zusammenarbeiten“. MICHAEL BRAUN