piwik no script img

Archiv-Artikel

Die kleine Avantgarde der Tanzmusik

Berliner Philharmoniker spielen zum fünften Mal gemeinsam mit Schülern aller Altersgruppen. Rund 200 Kinder tanzen in der Treptower Arena zu drei verschiedenen Werken ihre Choreografien. Manch einer der jungen Tänzer ist inzwischen ein alter Hase

„Mit den Schülern haben wir gelernt zu improvisieren“, sagt der Cellist„Ich habe schon das ganze Programm drauf“, erklärt Albert routiniert

von SEBASTIAN KRETZ

Die Jüngsten kauern gespannt hinter den Kulissen und warten auf ihren großen Auftritt. Auf der Bühne donnert der Chor zu Igor Strawinskys „Les Noces“ – „Die Hochzeit“. 140 Tänzer und Tänzerinnen lassen die Bühne beben, eine Teenagerin dreht sich um sich selbst, ein weißhaariger Greis zappelt und macht Luftsprünge. Endlich stürmen die Achtjährigen auf die Bühne, mischen sich unter die Großen und laufen mit ihnen im Kreis.

Das experimentelle Musiktheater des russischen Komponisten ist eines von drei Stücken, die Philharmoniker-Dirigent Sir Simon Rattle in diesem Winter mit Berliner Schülern aufführt. „Modern Times“ heißt die Inszenierung. „Les Noces“ ist das einzige Stück, bei dem neben Kindern und Jugendlichen auch Erwachsene über 50 auf der Bühne stehen werden. Das zweite Stück, „Ionisation“, ist eine „Soundprojektion“ des Avantgardisten Edgar Varèse für 13 Schlagzeuger. Die Uraufführung des Stücks „Purple Silence“ der kasachischen Komponistin Elena Katz-Chernin komplettiert das diesjährige sogenannte MusicTanz-Programm.

Seit drei Jahren studieren die Berliner Philharmoniker jährlich neue Tanzstücke mit Schülern ein, die bisher keinen Kontakt zu klassischer Musik hatten. Begonnen hat es 2003 mit Strawinskys Ballett „Le Sacre du Printemps“. Das Stück wurde nicht nur bekannt, weil Simon Rattle mitmachte. Der Dokumentarfilm „Rhythm is it“ sorgte mit eindringlichen Porträts beteiligter Schüler für Aufsehen. „Inzwischen sind die Education-Inszenierungen ein essenzieller Bestandteil unseres Programms“, sagt Pamela Rosenberg, Intendantin der Philharmonie.

„Diesmal wollten wir etwas Neues ausprobieren“, erklärt Catherine Milliken, Leiterin der Education-Abteilung. „Deswegen haben wir drei kürzere Werke in kleinerer Besetzung gewählt.“ Die Entscheidung für Kammermusik habe ein neues Bühnenkonzept für die Treptower Arena erfordert. Dort werden die MusicTanz-Stücke traditionell aufgeführt. „Wir wollten den Raum offener gestalten. Das Publikum sitzt jetzt um die Bühne und das Orchester herum“, so Milliken.

Die Streicher des philharmonischen Orchesters werden dieses Jahr nichts zu tun haben; keines der Stücke erfordert Geige oder Kontrabass. Ähnlich reduziert wie „Ionisation“ mit seinen 13 Schlagzeugern ist auch „Purple Silence“: Vier Hörner erzeugen die Musik, sonst nichts. Dagegen mutet Strawinskys Hochzeitstheater geradezu üppig an: Vier Klaviere, eine Pauke und fünf Schlagzeuge kommen zum Einsatz, dazu singen der Rundfunkchor Berlin und vier Solisten. Den Musikern gefällt die Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen. „Wir spielen sonst eine eher dienende Rolle“, erklärt Orchestervorstand Jan Diesselhorst. „Mit den Schülern haben wir gelernt, zu improvisieren und unsere Kreativität zu nutzen“, sagt der Cellist, der dieses Jahr selbst nicht mitspielt.

Statt Musikern gibt es umso mehr Tänzer. Etwa 200 Schüler von der zweiten Klasse bis zum Abijahrgang machen mit. Für Tanzlehrer Sjoerd Vreugdenhil „ganz normale Arbeit“. Er hat mit etwa 50 Grundschülern die Choreografie zu „Purple Silence“ entwickelt: „Es macht keinen großen Unterschied, ob ich mit Kindern oder mit Erwachsenen arbeite. Ich behandle die Schüler wie professionelle Tänzer“, erklärt Vreugdenhil. Kollege Xavier Le Roy fügt hinzu: „Kinder haben ein Talent, zu spielen. Das macht ihre Besonderheit aus.“ Le Roy hat mit etwa 40 Fünftklässlern die Tänze für „Ionisation“ einstudiert. Beide sind sich einig, dass die Kinder sich einbringen und selbstständig mitarbeiten, wenn man ihnen nur zeigt, dass man sie respektiert.

Das gehe am besten, erklärt Education-Chefin Milliken, wenn die ersten Proben in den Schulen selbst stattfänden. „Erst später haben wir die Kinder an die Bühne herangeführt“ – mit angenehmen Überraschungen für die kleinen Tänzer. Bei den ersten Proben mit Livemusik habe eine Schülerin sich gefreut: „Jetzt brauchen wir endlich kein Tonband mehr.“

Inzwischen haben sich die Jungs und Mädels an die ungewohnte Umgebung gewöhnt: Christof Schulz, 14, und Albert Lapp, 15, die bei „Les Noces“ auf der Bühne rennen, springen und kreiseln, sind schon alte Hasen. Sie haben im Frühjahr bei „Carmina Burana“ mitgemacht und daher angeblich kein Lampenfieber. „Ich habe schon das ganze Programm drauf“, erklärt Albert routiniert. „Wir machen die Schritte für die anderen vor, weil wir die besten Tänzer sind“, fügt Christof hinzu. Nur beim allerersten Mal auf der Bühne habe er ein wenig gezittert. „Aber als der Applaus von 3.000 Leuten kam, war das cool.“

„Modern Times“, 10. und 11. Dezember, jeweils 19.30 Uhr, Arena Treptow