: Staatsdiener hinter Gittern
AUS BÜREN HENK RAIJER
Thomas Bongartz füllt jeden Raum, den er betritt. „Na, alles klar bei euch?“ fragt der Vollzugsbeamte die drei Afrikaner, die an einem abgewetzten Arbeitstisch Schnellhefter in Kartons verpacken. Bongartz begrüßt jeden mit Handschlag. Er war gerade mehrere Tage auf Fortbildung, die Männer haben auf den gewichtigen Abteilungschef, der sie im Bürener Abschiebeknast betreut, gewartet. Aufmerksam hört der JVA-Wärter, der statt einer Pistole in seinem Halfter zwei große, glänzende Schlüssel trägt, einem der Häftlinge zu, erkundigt sich auch nach der schwangeren Freundin. „Läuft doch, nächste Woche reden wir noch mal“, sagt Bongartz und fasst den jungen Ghanaer an die Schulter: „Solange kein Abschiebebescheid vorliegt, sind Sie noch im Rennen.“
Die Bleiberechtsentscheidung der Innenminister hat auch in der JVA Büren die Runde gemacht. So manch einer der an diesem Tag einsitzenden 210 Männer macht sich wieder Hoffnungen auf Entlassung. Thomas Bongartz, ein untersetzter Fünfziger mit dünnem grauen Haar und randloser Brille, schreitet in gemächlichem Tempo die Reihe fahlgelber Türen im Zellentrakt ab. Am Ende des Flures betritt er eine zum Arbeitsraum umfunktionierte Zelle, in der zwölf Männer an langen Tischen sitzen und geschnitzte Krippenfiguren für die Weihnachtsmärkte der Umgebung anmalen.
Bongartz‘ Aufgabe als Koordinator der sozialen Dienste ist es, den Aufenthalt der Häftlinge auf der Offenen Abteilung so erträglich wie möglich zu gestalten. Er berät sie und hilft ihnen, so weit es in seiner Macht steht. Sei dies beim Ausfüllen von Anträgen an die Ausländerbehörde, an Gerichte oder an die Härtefallkommission. Aber auch bei der Auflösung von Wohnungen und Bankkonten. „Ganz wichtig ist, dass du immer ehrlich zu den Leuten bist, dass sie sich über die Konsequenzen ihrer Anträge und über den Abschiebetermin keine Illusionen machen“, ist Bongartz überzeugt.
Kaum hat er den schmucklosen Arbeitsraum betreten, stürzt Eke Züheyr auf den Mann in der geräumigen Uniformjacke zu. „Wissen Sie schon was Neues vom Petitionsausschuss“, fragt er seinen Betreuer. Thomas Bongartz schaut den 20-jährigen Libanesen lange an. Dann schüttelt er, fast entschuldigend, den Kopf – wie schon so oft in den letzten Monaten. Eke Züheyr hat 18 Jahre seines Lebens in Deutschland verbracht, ist hier aufgewachsen und zur Schule gegangen. Nun soll er in die Türkei abgeschoben werden, weil seine Eltern bei ihrer Einreise über die Türkei vor langer Zeit die inzwischen erworbene türkische Staatsbürgerschaft verschwiegen hatten. „Ich habe nichts verbrochen, werde aber wie ein Verbrecher eingesperrt“, sagt Eke Züheyr. „Das verstehe ich nicht.“
Thomas Bongartz legt seine Stirn in Falten, sobald er den jungen Häftling ansieht. „Der Eke spricht nicht mal richtig Türkisch“, hat er in Erfahrung gebracht. Weswegen er nach Möglichkeiten sucht, Eke Züheyr zu einer erneuten Anhörung zu verhelfen. Das macht er in Abstimmung mit dem Bürener Verein „Hilfe für Menschen in Abschiebehaft“, dessen Mitglieder seit 1994 die Interessen der Häftlinge bei der Anstaltsleitung vertreten, Kontakte zu Anwälten vermitteln und Anträge bei den Ausländerbehörden stellen. „Die Leute vom Verein lehnen die Abschiebehaft als solche ab, aber sie wollen den Menschen hier drinnen zur Seite stehen, deren Sprachrohr sein“, erzählt Bongartz. „Ich schätze deren Arbeit, weil es wichtig ist, den Behörden auf die Finger zu schauen. Wir haben hier in der JVA durch die Kritik des Vereins an den Vollzugsbestimmungen und -regeln schon eine ganze Reihe Veränderungen im täglichen Umgang mit den Gefangenen durchgeführt.“
Immer wenn er die JVA-Insassen erwähnt, spricht Thomas Bongartz von „Gefangenen“. Wie findet es eigentlich einer wie er, dass abgelehnte Asylbewerber, die sich nichts haben zu Schulden kommen lassen, außer dass sie ohne gültige Papiere in Deutschland lebten, vor ihrer Abschiebung weggesperrt werden wie Kriminelle? Der Beamte fummelt an seiner blauen Dienstkrawatte mit NRW-Emblem, bevor er sie schließlich akkurat über die Knopfreihe seines angespannten Hemdes drapiert. „Es gibt einfach Menschen, die Deutschland für immer verlassen müssen“, erklärt Bongartz und betont dabei die letzten beiden Silben des Satzes. „Das Ausländergesetz lässt abgelehnten Asylbewerbern immerhin die Chance, Deutschland freiwillig zu verlassen.“ Für eine „freiwillige Ausreise“ gebe es Gelder von der UNO, so dass zumindest die erste Zeit in der Heimat finanziell gesichert sei, erklärt der Vollzugsbeamte. Seit 30 Jahren ist er im NRW-Strafvollzug tätig und hat seit 1994, also von Anfang an, in der JVA Büren einige Ideen zur Verbesserung der Haftbedingungen dort beigesteuert. „Erst wenn diese Möglichkeit nicht genutzt wird und die Ausländer aufgegriffen werden, kommt eine Inhaftierung in Frage und ist Abschiebehaft eine notwendige Maßnahme“, gibt Bongartz den Staatsdiener, der er seit 1976 ist. „Durch internationale Vereinbarungen ist man gehalten, die Menschen festzusetzen und dann abzuschieben.“
So lange der Staat „Illegale“ vor ihrer Abschiebung einsperrt, fühlt sich der praktizierende Christ gehalten, dafür zu sorgen, dass der Knastaufenthalt den Insassen nicht noch zusätzlich schadet. „Wir behandeln die Menschen gut, und das ist die beste Gewähr dafür, dass die Häftlinge die Anstalt unbeschadet wieder verlassen“, meint der Vollzugsbeamte. Ihm liegt sehr viel daran, dass er und seine Bürener Kollegen in der Öffentlichkeit nicht als bloße Schließer dastehen. Was eigentlich selbstverständlich sein sollte im Umgang mit Menschen, die lediglich eine Ordnungswidrigkeit begangen haben, preist Bongartz als „humane Abschiebehaft“: täglich durchgängige Besuchszeiten ohne Anmeldung und akustische Überwachung, religiöse Betreuung, öffentliche Fernsprecher im Zellentrakt, ohne dass die Gespräche kontrolliert werden, eine umfassende Rechtsberatung sowie die Möglichkeit, durch Arbeit ein wenig Geld zu verdienen für den Einkauf im Knastshop – Thomas Bongartz ist sichtlich stolz auf das „etwas andere“ Vollzugskonzept der JVA Büren.
„Runter von der Hütte und was Sinnvolles arbeiten, sonst kriegste einen an der Birne und fängst an, am Gitter zu sägen“, lautet das Motto des Beamten, der im benachbarten Delbrück lebt, seit 30 Jahren verheiratet ist und fünf Kinder sowie zwei Enkelkinder hat. „Gewaltausbrüche und Suizide passieren da, wo sich keiner um die Gefangenen kümmert.“ Von daher biete die JVA Büren den Insassen neben einer Vielzahl von Sport- und Freizeitmöglichkeiten auch die Option zu arbeiten, wozu Abschiebehäftlinge nicht verpflichtet sind.
75 Prozent der Häftlinge in Büren werden abgeschoben, 25 Prozent entlassen mit der Auflage, sich bei den Ausländerbehörden zu melden. Die durchschnittliche Verweildauer beträgt 48 Tage. „Manche der Abschiebekandidaten treffen hier mit einem festen Abreisetermin ein und werden nach zehn Tagen ausgeflogen, andere verzögern durch Falschangaben zu ihrer Identität das Verfahren bis zu einem halben Jahr“, erklärt Bongartz. Logisch, dass Beamte da Anteil nähmen, auch mal Mitgefühl zeigten, wenn etwa in der Familie ein Kind erkrankt sei. „Wir müssen nur aufpassen, dass wir uns emotional nicht zu sehr binden.“ Der Mann mit den Schlüsseln, der seit Jahren von der eigentlichen Wärtertätigkeit freigestellt ist, hat zusammen mit Kollegen einen Gefangenen-Fürsorgeverein gegründet, der aus Mitgliedsbeiträgen und Spenden solchen Gefangenen hilft, die sich in Notlagen befinden und keine Hilfen von anderen zu erwarten haben.
Pro Monat durchlaufen rund 1.000 „Illegale“ den Abschiebeknast in Büren, der in der Regel mit bis zu 250 Häftlingen belegt ist. „Wir haben manchmal mehr als 50 Nationen gleichzeitig hier“, erzählt Thomas Bongartz, und seine blauen Augen hinter den Brillengläsern leuchten kurz auf. In den vergangenen Tagen hat er eine Fortbildung in multikultureller Kommunikation absolviert. „Die Leute hier machen oftmals Dinge, die ich nicht auf Anhieb verstehe“, sagt er und wühlt in dem Stapel Bücher auf dem Schreibtisch seines Dienstzimmers. „Ich finde es spannend, immer wieder Neues über fremde Kulturen zu lernen“, erzählt Bongartz, schiebt einige Bände über Psychologie und Ausländerrecht zur Seite und fischt ein Buch zum Thema Islam aus dem Papierdickicht. „Wir haben uns alles selbst erarbeiten müssen“, so Bongartz, sei es das Wissen um buddhistische Essgewohnheiten, religiöse Gebote des Islam oder die Nöte von Transsexuellen, die im Knast Frauenkleider tragen möchten.
Betreut werden die Häftlinge in Büren von 50 Vollzugsbeamten. Unterstützt werden sie von 70 Mitarbeitern eines privaten Sicherheitsunternehmens, die oftmals gezielt nach ihren Sprachkenntnissen ausgesucht werden, darunter viele Spätaussiedler, deren Kenntnisse hilfreich sind im Umgang mit Häftlingen aus Osteuropa. Bongartz: „Durch den Kontakt mit diesen Kollegen kriegen wir Einiges mit von den religiösen und kulturellen Bräuchen in den Herkunftsländern.“
Thomas Bongartz steht vor dem vergitterten Fenster seines Dienstzimmers, eine Lautsprecherdurchsage kündet vom Ende des Freitagsgebets. Mit zufriedener Miene betrachtet er die gut 30 Männer, die gerade den multifunktionalen Gebetsraum im ersten Stock des Empfangsgebäudes verlassen haben und nun auf den mit Drahtverhau umstellten Sportplatz zustreben. Die Pläne von NRW-Justizministerin Roswitha Müller-Piepenkötter (CDU), den Bürener Knast um 150 Plätze für den „normalen“ Strafvollzug zu erweitern, machen ihm Sorgen. Weil die JVA Büren durch die rückläufige Zahl der Asylbewerber seit längerem kaum ausgelastet ist, könnten in Zukunft neben Abschiebehäftlingen auch „normale“ Strafgefangene den Knast bevölkern. Und das wäre wohl das Aus für seinen „etwas anderen Vollzug“.