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Archiv-Artikel

Der Lehrer der Demokratie

Es bringe ihn zum Weinen, dass China 100 Jahre nach Gründung seiner ersten Republik immer noch keine Demokratie sei, sagte der schwerkranke Szeto Wah einem Hongkonger Zeitungsbericht zufolge kurz vor Beginn dieses Jahres 2011. Da muss dem Hongkonger Menschenrechtsaktivisten längst klar gewesen sein, dass er die Demokratie in China nicht mehr erleben wird. Dennoch erreichte Szeto, der am Sonntag im Alter von 79 Jahren an Lungenkrebs starb und von seinen Mitstreitern „Onkel Wah“ genannt wird, viel für die Demokratie – zumindest in der früheren britischen Kolonie und heutigen chinesischen Sonderzone.

Der hagere und bescheiden lebende Junggeselle, der die Strenge wie Güte eines Lehrers ausstrahlen konnte, gründete drei Organisationen mit, die das politische Klima in der Stadt maßgeblich veränderten. Nachdem er als Direktor einer Grundschule 1973 den ersten stadtweiten Lehrerstreik geführt hatte, entstand daraus eine bis heute einflussreiche Lehrergewerkschaft. Szeto leitete sie 16 Jahre und vertrat den Bildungssektor später auch im Kolonialparlament. Als die Briten kurz vor ihrem Abzug das Kolonialsystem noch demokratisierten, gründete Szeto die Demokratische Partei mit. Er war Abgeordneter dieser größten Oppositionspartei bis 2006.

Als antikolonial eingestellter chinesischer Nationalist war Szeto in den 80er Jahren in das Komitee berufen worden, das Hongkongs Verfassung für die 50-jährige Autonomiezeit nach der britischen Herrschaft formulieren sollte. Doch überwarf er sich 1989 mit Peking, als er zur Unterstützung der studentischen Demokratiebewegung in China aufrief. Seit deren gewaltsamer Niederschlagung hatte Szeto in der Volksrepublik Einreiseverbot. Und seitdem führte er die „Hongkonger Allianz zur Unterstützung patriotischer demokratischer Bewegungen in China“, die jährlich mit einer Großkundgebung an die brutale Unterdrückung von 1989 erinnert. 2009 gedachten 150.000 Hongkonger der blutigen Repression, so viele wie 20 Jahre lang nicht mehr. Darunter waren auch sehr viele junge Menschen, welche die damaligen Ereignisse nicht bewusst erlebt haben konnten. Szeto Wah war ihr Lehrer der Demokratie. SVEN HANSEN