frau schwab geht unter leute : Das Fest der Obdachlosen in der Heilig-Kreuz-Kirche
Im Vorschiff, im Hauptschiff, im Chor – überall in der Heilig-Kreuz-Kirche in Kreuzberg sitzen Menschen an langen Tischen. Sie verbergen nichts. Ihre Armut nicht, auch nicht ihr Zittern in den Händen, ihren Hunger, ihre Sehnsucht. „Schreiben Sie etwas über mich“, sagt einer, der seinen offenen Blick durch die Luft wirft wie einen Anker. „Ich hab noch eine Wohnung. Noch. Seit 1. Oktober bin ich arbeitslos.“ Im nächsten Satz ist er seit dem 1. Juli auf Hartz IV. Im übernächsten seit 1. September. Immer am Ersten. Verheiratet war er mit einer Russin. Er zeigt nach unten. „Man ist nicht umsonst hier.“
Bei der Bahnhofsmission hat man ihm gesagt, dass in der Heilig-Kreuz-Kirche gefeiert wird. „Das hier ist für uns“, sagt der Mann mit Schiebermütze neben ihm. Uns? „Wir von unten.“ Am 20. geht er auch ins Estrel, wo Frank Zander „uns“ einlädt. „Da gibt es aber Bier“, hakt der neben ihm nach. „Ich bin nämlich Alkoholiker.“ Die Leute am Tisch nicken. „Das Fest in der Kirche ist für Kultur“, erklärt einer. „Ist auch wichtig“, meint der mit der Schiebermütze.
In der Gruppe hinter ihnen sitzen zwei Männer an einer Säule und dösen. Beide habe graue, lockige Haare, schmale, unrasierte Gesichter. Brüder? „Ja. Brüder.“ Wer ist der Ältere? Der eine deutet auf den anderen. „Five Minutes.“ Aus Irland sind sie vor Jahren nach Berlin gekommen. In der Nacht vor dem Fest der Obdachlosen waren sie zu betrunken, um den Weg zur Unterkunft zu finden. „Sind immer im Kreis gelaufen.“ Ein Helfer legt ein Stück Kuchen auf den Teller des fünf Minuten Jüngeren. „Hier, iss. Ist umsonst.“
Bestimmt 1.000 Arme und Obdachlose, die meisten Männer, die älter aussehen, als sie sind, sitzen dicht gedrängt an den Tischen in der Kirche. Manche haben einen Ring im Ohr, eine Tätowierung auf dem Unterarm, eine Nikolausmütze auf dem Kopf. Manche behalten ihre Mützen auf, manche verstauen ihre Lidl-Tüten unter den Tischen. Einer sitzt aus Gewohnheit auf einer Zeitung. Viele behalten ihre braunen, grauen, olivgrünen Winterjacken an. Der Geruch von gebratenem Hähnchen hängt in der Luft. Dazu Kartoffelsalat, Obst, Kaffee, Kuchen. Viele Spender machen es möglich. Im Chor, wo sonst Altar und Kanzel stehen, spielt jemand leise Klavier zum Candle-Light-Dinner für Arme. Eine Kerze am Adventskranz brennt schon. Später kommen Flamencotanz, Klezmermusik und A-cappella-Chöre dazu.
Die Gemeinde der Heilig-Kreuz-Kirche macht seit Jahren eine politisch offensive Arbeit gegen Ungerechtigkeit, gegen Armut. „Arme sind keine Almosenempfänger, sondern Menschen, die ein Recht auf Teilhabe und Gerechtigkeit haben“, sagt der geschäftsführende Pfarrer Peter Storck. Leben mit Obdachlosen, Kirchenasyl, Lobbyarbeit für die Regelsatzerhöhung von Hartz IV – solche Themen stehen auf der Agenda. Als das Sozialticket abgeschafft wurde, rief die Kirche zum Schwarzfahren auf. Gegen Storck wurde ein Ermittlungsverfahren angestrengt. Zum diesjährigen Obdachlosenfest kam – eine Geste der Versöhnung? – neben der Sozialsenatorin auch der Innensenator.
Ganz im Osten, da, wo sonst das Allerheiligste einer Kirche aufbewahrt wird, sitzen die Leute vom Wohnprojekt der Kirchengemeinde in der Nostizstraße. Wer dort ankommt, ist schwerkrank. Obdachlose können dort leben bis zu ihrem Tod. Alkoholverbot gibt es im Haus nicht mehr. Roland sitzt da. Er ist 44 Jahre, sieht 20 Jahre älter aus. Mit 13 hat er in der DDR einen Wartburg geknackt, wollte ab in den Westen. Ist nicht weit gekommen. „Vattern hat gesoffen. Wir waren neun Kinder. Wat kann uns Muttern da schon jeben.“ Entzug geht bei ihm nicht. „Raus aus der Klinik, und die Pulle ist am Hals.“
Lothar ging es ähnlich. „30 Jahre gesoffen, 62-mal Entzug. Kein Flecken Ku’damm, auf dem ich nicht geschlafen habe. Keine Bierdose, die ich nicht angekickt hab, zwischen Gedächtniskirche und Halensee. Könnt ja noch ’n Tropfen drin sein.“ Er strandete in der Nostizstraße. Da hat es klick im Kopf gemacht: „Ich saufe nicht, weil ich auf der Straße bin, ich bin auf der Straße, weil ich saufe.“ Von einem Tag auf den anderen hat er aufgehört. Jetzt lebt er in der WG für Trockene.
„Sehen Sie, wie er gelobt werden will“, mischt sich ein hagerer Mann vom Nebentisch ein. Alkohol ja oder nein, das sei es nicht. „Hier sind genug, die nicht saufen.“ Er ist hier, weil er ein fauler Mensch sei. „Ich bin gegen den Staat. Aber ich nehm auch kein Geld von ihm.“ Kein Hartz IV, keine Krankenversicherung. Betteln, Platte machen, bei Bekannten übernachten, Kleider aus der Kleiderkammer. „Ich bin Großstadtnomade. So leben viele. Nur meine Zähne sind schlecht.“