: „Widerstand ist sofort großflächig
BLICK IN DIE ZUKUNFT Der 60-jährige Künstler Reinhard Stangl glaubt, dass sich die Oranienstraße, wo sein Atelier ist, nicht viel verändern wird
„1980 bin ich nach Westberlin gekommen. Eine Heirat hat mir die Ausreise aus der DDR erleichtert. Damals habe ich in der DDR keine Perspektive mehr gesehen – weder für eine gesellschaftliche Veränderung noch für mich als Künstler. In den 1970ern haben wir auf bessere Zeiten gehofft, doch mit der Ausweisung von Wolf Biermann und der folgenden Repression gegen Künstler in der DDR zerschlugen sich alle Träume. Damals verschlug es mich gleich nach Berlin. Die Stadt war damals schon nicht zu vergleichen mit dem Rest der Bundesrepublik.
Wenn Sie mich fragen, wie die Oranienstraße in zehn Jahren aussehen wird: Die Oranienstraße wird immer die Oranienstraße bleiben. Es wird keine Luxusboutiquen hier geben. Und das ist auch gut so. Ich habe seit nunmehr 25 Jahren in der Straße mein Atelier. Hier finde ich meinen Buchladen, meinen Gemüsehändler und auch um vier Uhr nachts noch meinen Imbiss. Und für einen Künstler ist es ideal, sein Atelier in der Mitte der Stadt zu haben.
Es stimmt, dass die Mieten steigen und viele neue Leute kommen. Ich sehe das am Haus, in dem ich mein Atelier habe. Viele Handwerker und kleine Gewerbetreibende mussten ausziehen, dafür kamen Werbeagenturen. Es gibt manche Künstler, die sagen, wenn Kreuzberg zu teuer wird, dann muss man wahrscheinlich nach Schöneweide ziehen. Doch so eine Spekulationsblase wie in München wird es auch in zehn Jahren nicht geben. Das sieht man an den Geschäften in der Oranienstraße: Früher waren es Import-Export-Läden, heute sind es Handy-Läden, aber die Besitzer sind die gleichen geblieben. Kreuzberg ist fest in ihrer Hand.
Vor allem aber gibt es in Kreuzberg eine gute Tradition des Widerständigen. Es gibt hier einfach Gruppen, die genau aufpassen, was passiert. Und dann ist der Widerstand sofort großflächig. Das ist eine Tradition, die immer da sein wird und sich immer wieder selbst stärkt. Das macht Kreuzberg letztlich für das große Kapital uninteressant.
Aber ob ich in zehn Jahren noch in meinem Atelier in der Oranienstraße sein werde, das weiß ich nicht. Ich bin damals aus der DDR geflohen, weil ich was von der Welt sehen wollte. Und das will ich auch mit 60 Jahren noch. In Deutschland denken die Menschen bei Veränderungen immer nur an die schlechten Seiten.“ PROTOKOLL: S. POELCHAU