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Archiv-Artikel

„Wir gehen davon aus, dass es funktioniert“

DEICHSCHUTZ Der Bremer Deichhauptmann Michael Schirmer weiß nicht, ob die neuen Deiche länger halten als bis 2020. Und er hofft, dass die Windräder im nächsten Orkan nicht umkippen und die Deiche aufschlitzen

Michael Schirmer

■ 70, Biologe und Fischereiwissenschaftler, war Hochschullehrer für Biologie und Chemie an der Uni Bremen mit den Schwerpunkten Aquatische Ökologie und Klimafolgenforschung. Seit 2004 ist er Deichhauptmann des Bremischen Deichverbandes am rechten Weserufer.

INTERVIEW PETRA SCHELLEN

taz: Herr Schirmer, was tut ein Deichhauptmann?

Michael Schirmer: Der Deichhauptmann in Bremen entspricht ungefähr dem Deichgrafen oder Deichrichter im Niedersächsischen: Er ist der oberste Vertreter der Mitglieder des Deichverbandes.

Wer sind die Mitglieder?

In Bremen sind das automatisch alle Mitbürger, die hier Grundbesitz haben. Sie wählen alle fünf Jahre 31 Delegierte, die beschließen, wie das Geld verwendet wird. Wobei es in Bremen zwei Deichverbände gibt: einen größeren am rechten Weserufer, dem ich vorstehe, und einen kleineren auf der linken Weserseite.

Wie hoch sind eigentlich Norddeutschlands Deiche?

Das ändert sich gerade. Niedersachsen und Bremen haben seit 2007 ein Programm zur Anpassung der Deiche an den steigenden Meeresspiegel aufgelegt, den „Generalplan Küstenschutz“. Er bedeutet, dass die jetzt sieben Meter hohen Deiche bis 2020 um einen Meter erhöht werden.

Wird die Realität nicht schneller sein?

Ich hoffe nicht. Dazu muss man sagen: Anders als vor der großen Sturmflut von 1962 ist Deichbau heute eine Ingenieurwissenschaft. Man karrt also nicht mehr Sand und Erde hin und her und hofft, dass keine höhere Flut kommt, sondern analysiert die Wasserstände. Der Generalplan basiert auf einem Meeresspiegelanstieg um 50 Zentimeter, und wir gehen davon aus, dass das, was wir jetzt bauen, für eine gewisse Zeit ausreicht.

Für eine gewisse Zeit?

Genaues kann niemand sagen. Das wäre Kaffeesatzleserei.

Wichtiger Teil des Deichs ist die flache Böschung, die die Wellen bremst. Wie breit wird der neue Deich sein?

Alles inklusive rund 100 Meter. Die acht oder neun Meter hohen Deiche an der niedersächsischen Nordseeküste kommen sogar auf 120 Meter. Wenn Sie noch einen Meter draufsetzen, sind Sie bei 130, 140 Metern Breite. Da passt locker ein Fußballfeld rein.

Wie lange wird der neue Deich halten?

Das weiß niemand. Deshalb haben wir in Niedersachsen und Bremen in die jetzigen Erhöhungsplanungen von vornherein eine weitere Erhöhung um 75 Zentimeter eingeplant.

Die Deichkrone wird verbreitert, damit man später aufstocken kann.

Ja, und vor allem wird der Fuß breiter. Je höher ein Deich ist, desto flacher muss seine Böschung sein – innen und außen. Das war 1962, als die Deiche in Hamburg und an der Nordseeküste brachen, das Hauptproblem: Die Deiche waren eigentlich hoch genug. Aber jede zweite Welle lief oben drüber und fiel auf der Rückseite wie ein Wasserfall herunter, sodass die Deiche von hinten ausgehöhlt wurden.

Wie hoch kann man Deiche maximal bauen?

Das wüssten wir alle gern; es hängt vom Untergrund ab. An der Elbe und in Niedersachsen gibt es Abschnitte, wo man um zwei Meter erhöhen kann. Anderswo sind drei oder vier Meter drin – bevor man zum Beispiel Bremen aufgibt. Aber dann wird es sehr teuer, weil man den Untergrund befestigen muss.

Weil der Deich zu schwer wird?

Ja. Sand und Tonerde – Kleie –, aus denen ein Deich hauptsächlich besteht, wiegen etliche Kilo.

Kämen total wasserdichte Deiche aus Teer oder Beton infrage?

Nein, bloß nicht! Wenn Sie so ein großes Bauwerk über Hunderte von Kilometern auf dem Marschboden aus Teer oder Beton bauen, fängt es überall an zu sacken. Denn der Untergrund ist elastisch bei uns in Norddeutschland, und das Erdreich auch. Außerdem haben wir mit den grünen Deichen gute Erfahrungen gemacht. In ihrer jetzigen Höhe gewährleisten sie, dass man nur einmal in 4.000 Jahren mit einer Überströmung rechnen muss.

Und was passiert, wenn man aus technischen Gründen nicht mehr höher bauen kann?

Dann muss man überlegen, eine zweite oder dritte Deichlinie dahinter zu legen, damit sich Wasser, das eventuell über den vorderen Deich läuft, nicht bis zum Horizont ausbreitet.

Sind auch weitere Überflutungsflächen im Gespräch?

Das geht überall dort, wo ich eine begrenzte Nachfuhr von Wasser habe. Es ist also nicht sinnvoll, Küstendeiche ins Land hinein zurückzuverlegen. Das Meer würde den zusätzlichen Raum bei Sturmflut sofort füllen.

Aber an den Flüssen ginge es?

Ja. Man könnte seitlich der Unterweser Entlastungspolder schaffen, die den Sturmflut-Wasserstand um bis zu 70 Zentimeter senken könnten. Zum Glück gibt es dort ausreichende Flächen, die nur dünn besiedelt sind.

Aber sie gehören jemandem.

Ja. Wenn ich eine Fläche als Überflutungsfläche definiere, wäre also das Mindeste, das man Ausgleichszahlungen leistet. Und für einen Ringdeich müsste man das Land aufkaufen oder schlimmstenfalls enteignen.

Überzeugungskraft reicht nicht?

Teils, teils. Alle an der Küste, die ein bisschen älter sind, haben Sturmfluten erlebt und wissen, was das bedeutet. Aber die Bereitschaft, solche Entwicklungen mitzumachen, müsste trotzdem über Jahrzehnte entwickelt werden. Und in der Zwischenzeit wird die Marsch besiedelt, dann kommt eine Küstenautobahn, eine Gaspipeline quer durch den Deich, ein Windpark …

Hält ein Windpark einer Sturmflut stand?

Hoffentlich. Ich gehe davon aus, dass das ausreichend berechnet ist. Ich kenne bisher nur ein oder zwei Beispiele, wo bei Sturm Windräder umgekippt sind.

Stehen vor Ihren Deichen Windräder?

Ja, im Bremer Raum stehen einige, und da haben wir als Deichverband gesagt, wir brauchen eine besondere Garantieerklärung, dass die beim nächsten Orkan nicht umkippen und den Deich aufschlitzen. Die Hersteller haben uns plausibel gemacht, dass damit nicht zu rechnen ist.

Plausibel gemacht? Gibt es keine gesetzlichen Vorschriften?

Doch, es gibt Prüfunterlagen und die TÜV-Freigabe, die sich unsere Verbandsingenieure angeguckt haben. Auf dieser Grundlage haben wir gesagt: Gut, gehen wir davon aus, dass es funktioniert.

Stimmt es eigentlich, dass der Meeresspiegel auch deshalb steigt, weil noch Eiszeit-Gletscher abschmelzen und zudem eine Landsenkung stattfindet?

Ja. Während der Eiszeiten haben in Norddeutschland kilometerdicke Gletscher das Land heruntergedrückt. Mit dem Ende der Eiszeit haben sie sich zurückgezogen und die Landoberfläche entlastet – vor allem in Skandinavien. Am Bottnischen Meeresbusen gibt es Städte, die pro Jahr um einen Zentimeter steigen. Das Dumme ist nun: Wir sitzen auf derselben Kontinentalscholle, nur am falschen Ende. Wenn Skandinavien hochkommt, geht also unsere Seite runter.

Wie auf einer Wippe.

Ja. Die Achse der Wippe liegt in Jütland, sodass wir hier eine geologische Senkung um zehn Zentimeter pro Jahrhundert haben.

Was sich auswirkt als Anstieg des Meeresspiegels.

Ja. Zusätzlich bringt das Schmelzen der Gletscher massig Wasser in die Ozeane, was den Meeresspiegel weiter hochtreibt.

Spielt die Angst vor einer Strafe Gottes noch eine Rolle? In der Bremischen Deichordnung von 1473 steht: „Es darf niemand, solange am Deich gearbeitet wird, fluchen oder lästerliche Reden führen.“

Normalerweise ist das kein Thema. Aber wenn eine schwere Sturmflut kommt, schießen solche Ängste schnell hoch. Das geht uns ja allen so: In der Not fangen wir an zu beten. Es ist aber keine Grundlage für unsere Arbeit im Deichverband.

Aber könnte es unter den Deicharbeitern noch solche Vorstellungen geben?

Jedenfalls nicht hier in Bremen. Das sind alles Stadtleute, aber sie sind mit Herzblut dabei. Bei der letzten Sturmflut waren sie ohne Murren 48 Stunden am Deich, weil sie wussten: Sie sind diejenigen, die die Stadt schützen.