: „Schule darf kein Trichter sein“
Unvergessen? Vier Jahre nach seinem Tod lässt das Theater Ivan Illich in Vorträgen von Weggefährten zu Wort kommen. Wie aktuell dessen Schulkritik bleibt, erläutert Johannes Beck heute auch in der taz
Interview von Jan Zier
taz: Anlässlich des 80. Geburtstags von Ivan Illich widmet ihm das Bremer Theater eine Vortragsreihe. Was ist von ihm geblieben?
Johannes Beck: Er wird immer noch als Kritiker der Expertenherrschaft wahrgenommen, vor allem als Kritiker von Institutionen wie der Schule. Aber von diesen Experten, die er so kritisierte, wird er nicht besonders gemocht. Das ist verständlich.
Aber in der bildungspolitischen Debatte spielt er praktisch keine Rolle…
Das liegt daran, dass leider viel von dem eingetroffen ist, was er befürchtet hat: Die meisten haben sich unters Diktat bestehender Gedanken eingeordnet. Da stört so einer. Illich hat noch die Schule selbst in Frage gestellt. Aber nach dem Pisa-Schock wird nur darüber diskutiert, wie man die Schule immanent verbessern kann, nicht mehr darüber, ob es eine Alternative gibt. Heute nimmt man die Schüler aus dem normalen Lebenszusammenhang heraus – und ermöglicht ihnen ein Lernen nur noch durch Belehrung, aber kaum durch Erfahrung.
Kritiker sagen, Illich hat dabei mehr Fragen aufgeworfen als Antworten gegeben.
Dem kann ich zustimmen. Diese Fragen müssen von der Gesellschaft beantwortet werden, nicht vom Schreibtisch aus.
Illich plädiert für eine „Entschulung“ der Schule – weil Schule Quelle der Ungleichheit sei. Eine gültige Analyse?
Ja. Aber es werden keine bildungspolitischen Konsequenzen daraus gezogen. Schulen sind für ihn eine Art säkularisierte Kirche gewesen, ein gesellschaftlicher Initiationsritus, der die Menschen relativ willkürlich in verschiedene Begabungstypen einteilt.
Aber wie soll die Alternative zu dem aussehen, was man heute „Regelschule“ nennt?
Die Schule hat dazu beigetragen, dass ganze Stadtviertel von ihren Kindern entsorgt werden, manchmal einen ganzen Tag lang. Es müssten aber Lernorte geschaffen werden, in denen die Kinder ganz normal das Nötigste für das Leben im Leben selbst lernen – und nicht nur über das Leben belehrt werden.
Ist dieser Reformansatz mit dem Kapitalismus vereinbar?
Kaum. Aber Illichs Hintergrund ist weniger einer von Marx und Engels als ein religiöser. Illich sagt, dass eine Gesellschaft, die den Menschen die Sorge füreinander durch Institutionen verwehrt, nicht menschlich ist. Er sagt nicht, dass die Schule die Klassenstruktur hervorbringt. Sie verfestigt sie.
Ist seine Idee nicht ein Fall für hoffnungslose Romantiker?
Die Reformpädagogen des 20. Jahrhunderts haben immer wieder versucht, das in irgendeiner Weise umzusetzen. Aber die Schule mit ihren okkulten Prämissen sabotiert das Lernen im Lebenszusammenhang. Die Schule müsste sich in das städtische oder dörfliche Leben öffnen, ein Teil davon werden. Und aufhören, ein Ghetto zu sein, in das die Kinder eingesperrt werden. Die Schule darf kein Trichter sein, wo man Wissensbrocken in die Schüler eindrückt, die sie nachher in irgendwelchen Tests von sich geben sollen. Die Ort der Bildung müssten vor allem Ort des Ausdrucks sein. Wenn man den Schülern das verwehrt, werden sie destruktiv bis kriminell. Randale oder Amokläufe sind ja Gestaltungsversuche von Jugendlichen.
Die Antwort der heutigen Pädagogik setzt dabei auf mehr Autorität und Disziplin.
Die Frage ist, ob das eine aufgeherrschte Autorität ist – oder eine, die die Kinder und Jugendlichen akzeptieren können. Das ist in der Pflichtschule schwierig. Wenn die Autorität der Erwachsenen sachlich gerechtfertigt ist, werden die meisten Kinder und Jugendlichen dagegen nichts einzuwenden haben. Am Anfang gehen die Leute ja gerne in die Schule. Das ändert sich dann nach ein paar Jahren. Die Schule selbst nimmt den Menschen also die Freude am Lernen. Die Menschen lernen die wichtigsten Dinge außerhalb der Schule, das Sprechen, oder das Laufen. Wenn man „Radfahren“ als Fach einführen würde, würden die Schüler das nie lernen. Die Menschen lernen etwas, weil sie es gerne tun, nicht, weil sie es müssen und dafür eine Note bekommen. Das ist völlig überflüssig.