: Neonazis immer aggressiver
Die Zahl rechtsextremer Gewalttaten hat sich in diesem Jahr laut Polizeipräsident Glietsch verdoppelt. Doch der Protest dagegen wird massiver: Hunderte demonstrieren am Samstag gegen Neonazis in Treptow-Köpenick und Neukölln
Eine so große Sitzblockade hat es in Köpenick schon lange nicht mehr gegeben. Mehr als 500 Nazi-Gegner setzten sich in der Nähe vom Bahnhof Schöneweide auf die Straße und versperrten damit die angemeldete Route der Neonazis. Die Rechtsextremisten konnten mit mehr als dreieinhalbstündiger Verzögerung dennoch marschieren. Die Polizei sorgte für eine Ausweichroute.
Wie schon in den vergangenen Jahren im Dezember marschierten an diesem Wochenende erneut rund 200 Rechtsextremisten durch Treptow-Köpenick und Neukölln. Unter dem harmlos klingendem Motto „Jugend braucht wieder Perspektiven“ forderten die Neonazis ein eigenes Jugendzentrum. Zurück geht diese Forderung auf die inzwischen verbotene Kameradschaft „Berliner Alternative Südost“ (Baso). Ihre ehemaligen Mitglieder waren auch am Samstag dabei. Erstmals seit langem ließ sich auch der Bundesvorsitzende der NPD, Udo Voigt, ganz unverhohlen auf einem Aufmarsch der als besonders gewalttätig geltenden Kameradschaftsszene blicken. Diese hatte er in den letzten Jahren eher gemieden, um nicht zu offensichtlich seine guten Verbindungen zur militanten rechten Szene zur Schau zu stellen.
Aktiv war am Samstag auch das ebenfalls seit Jahren existierende Anti-Nazi-Bündnis. Neben der Großblockade beteiligten sich rund 1.000 Gegendemonstranten an den Aktionen, die unter dem Motto „Für Demokratie und Toleranz – Keinen Boden den Neonazis!“ standen. Die größte Kundgebung fand an der Ecke Großberliner Damm/Sterndamm im Ortsteil Johannisthal statt. Unter den Teilnehmern waren Linkspartei-Landeschef Klaus Lederer und die Links-Fraktionsvize im Bundestag, Petra Pau. Auch der grüne Bundestagsabgeordnete Wolfgang Wieland, Grünen-Fraktionschefin im Abgeordnetenhaus Franziska Eichstätt-Bohlig und Berlins jüngste Abgeordnete, Clara Herrmann, ebenfalls Grüne, waren anwesend. Zur Teilnahme hatten die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus (MBR) und die Bezirksbürgermeisterin von Treptow-Köpenick, Gabriele Schöttler (SPD), aufgerufen.
Nach Angaben der Polizei zogen die Neonazis vom S-Bahnhof Schöneweide zum U-Bahnhof Rudow. Immer wieder versuchten linke Gegendemonstranten, den Aufmarsch zu stoppen. Diese Versuche misslangen. Insgesamt nahm die Polizei acht Personen fest, die angeblich gegen das Versammlungsgesetz verstoßen, Widerstand gegen Beamte geleistet oder Landfriedensbruch begangen hätten. 1.000 Beamte seien im Einsatz gewesen, so ein Sprecher der Polizei.
Polizeipräsident Dieter Glietsch zeigt sich besorgt über die rapide gestiegene Zahl von rechtsextrem motivierten Gewalttaten in Berlin. Mit mehr als 100 Delikten habe sich die Zahl im Vergleich zu 2005 verdoppelt. „Das ist eine neue, besorgniserregende Entwicklung“, sagte Glietsch. Diese Zahl erklärt er sich mit dem Scheitern des Verbotsverfahrens gegen die NPD im Jahr 2003. „Seitdem agieren die Rechtsextremisten aggressiver und hemmungsloser, weil sie sich offenbar sicher fühlen.“ Bislang waren es vor allem Propagandadelikte, die in ähnlichem Maße zugenommen haben. Die Gesamtzahl der rechtsextremistischen Straftaten hat sich seit 2003 verdoppelt.
Der Polizeichef sprach sich zudem für ein Verbot der NPD aus. Die Politik sollte einen neuen Versuch starten, sagte Glietsch. „Andernfalls könnte alles noch schlimmer werden.“ Debattiert wird über ein Verbot, seitdem die NPD Anfang November ihren Bundesparteitag symbolträchtig erstmals in Berlin abhalten konnte. F. LEE, J. MEYER