: Die Auserwählten
LEGENDE Die brasilianische Nationalmannschaft ist eine riesige Projektionsfläche. Sie wird gebraucht und missbraucht – von Armen und Reichen. Eine Bestandsaufnahme vor der Fußballweltmeisterschaft 2014
■ Das Land: Brasilien nimmt fast die Hälfte der Fläche Südamerikas ein. 87 Prozent der Menschen leben in Städten.
■ Die Leute: Mit etwa 203 Millionen Einwohnern ist Brasilien das sechstgrößte Land der Welt. Der Altersdurchschnitt liegt bei 31.
■ Die Wirtschaft: Das Wachstum beträgt 2,5 Prozent, das monatliche Durchschnittseinkommen 1.000 Dollar. Jeder Fünfte lebt unter der Armutsgrenze.
■ Die Regierung: Eine lose Koalition hauptsächlich linker Parteien regiert seit 2011. Die Präsidentin Dilma Vana Rousseff entstammt der stärksten, der Partei der Arbeiter PT. Die nächsten Wahlen stehen im Oktober 2014 an.
AUS RIO DE JANEIRO MARTIN KAUL UND CONSTANTIN WISSMANN
Die Entstehung einer Weltmarke beginnt damit, dass ein junger Stürmer während eines Fußballspiels zwei Zähne verliert. Ziemlich genau 100 Jahre ist das her, es geschieht am 21. Juli 1914. In Rio de Janeiro, auf einem Bolzplatz am Fuße eines von Urwald bewachsenen Hanges, sind an diesem Tag die Engländer zu Gast. Die erste Mannschaft von Exeter City.
Am Rand des Feldes stehen ein paar Tausend Zuschauer, als die brasilianische Nationalmannschaft zum ersten Spiel ihrer Geschichte aufläuft. Die Spieler tragen weiße Trikots mit blauen Streifen an den Ärmeln. Der grobe braune Lederball ist so schwer, dass er beim Kopfball schmerzt. Die Brasilianer führen ihn eng am Fuß, geschickter als die Engländer. Die reagieren ruppig. Der Deutsch-Brasilianer Arthur Friedenreich, der einer der besten Fußballer aller Zeiten werden wird, geht mit blutigem Mund vom Platz.
Aber Brasilien gewinnt das Spiel mit 2:0. Der Anfang eines gigantischen Mythos und die Geburt einer Marke, deren Wert heute nur noch in Millionen gemessen werden kann.
Fünf Mal, so oft wie keine andere Mannschaft, wurde die Männerauswahl Brasiliens Fußballweltmeister. Und seit es eine internationale Fußballrangliste gibt, stehen die Brasilianer meist an derenSpitze. In das Trikot der Seleção, der Auswahl, wie das Team genannt wird, sind die Projektionen von Menschen rund um den Erdball eingewebt. Es zeigt, wonach sie sich sehnen. Lebensfreude, Eleganz und Leichtigkeit. Exotik, Erfolg und Ästhetik. Es steht dafür, dass Fußball mehr sein kann als Sport. Kunst. Manche sagen Religion.
Von dem Mythos versuchen viele zu profitieren. Und so ist die Geschichte dieser Marke auch die Geschichte einer Aneignung, einer Instrumentalisierung, einer Gefangennahme. Seit an diesem 21. Juli 1914 das erste Spiel der brasilianischen Auswahl angepfiffen wurde, begleitet eine Frage die Mannschaft, die die brasilianische Gesellschaft nie ruhen ließ: Wem gehört die Seleção?
Damals, 1914, residierte der mächtige Unternehmer Arnaldo Guinle in einem Palast neben dem Spielfeld. Nach und nach baute er das Stadion am Fuße des Hanges im Stadtteil Laranjeiras aus: ein prächtiges Empfangsgebäude, Tennisplätze, einen Ballsaal. Es war eine Art Hobby des Millionärs, aber auch eine Gabe an das Volk und sein Viertel. Mehr als drei Jahrzehnte spielte die Nationalmannschaft in Guinles Vorgarten.
Es ist ein bisschen schwieriger zu durchschauen, in wessen Vorgarten die Seleção heute spielt.
Im Stadion, in dem die Geschichte der Seleção begann, ist die Besuchertribüne inzwischen einsturzgefährdet. An diesem Donnerstagmorgen um kurz nach neun Uhr sitzen zwei Dutzend Besucher auf Steinbänken, von denen die weiße Farbe bröckelt. Sie zahlen fünf Euro Eintritt, um den leeren Ballsaal anzuschauen und auf den Rasen zu blicken. Da unten auf dem heutigen Trainingsgelände des brasilianischen Erstligaklubs Fluminense, spielt Frederico Chaves Guedes, 30 Jahre alt, genannt Fred, einer der brasilianischen Nationalspieler. An diesem Morgen macht der Stürmer im orangefarbenen Leibchen ein paar Laufübungen auf dem Feld. Ein kurzes Spiel, dann verschwindet er wieder in der Kabine. 90 Minuten leichtes Training sind genug, er muss sich schonen.
Außer Fred verdienen nur drei weitere der 23 Nationalspieler in Brasilien ihr Geld. Der Rest spielt längst in Europa, bei Bayern, Chelsea oder Barcelona. Seit die Seleção zur Weltmarke geworden ist, können sich die Vereine im eigenen Land die teuren Exportschlager kaum mehr leisten.
„Diese Mannschaft“, sagt Maria de Lourdes do Carmo, „ist nicht mehr meine Mannschaft.“
Wenn am nächsten Donnerstag nachmittags um fünf im Stadion von São Paulo ein Pfiff ertönt, der durch Millionen Lautsprecher in die ganze Welt übertragen wird, wenn damit die Weltmeisterschaft beginnt, dann drückt Maria de Lourdes do Carmo, Straßenverkäuferin aus Rio de Janeiro, den Spielern aus Kroatien die Daumen. „Brasilien soll 8:0 verlieren“, sagt sie. Maria de Lourdes do Carmo schaut gerne Fußball, sie hat schon über viele Tore gejubelt in den 40 Jahren ihres Lebens und mag die Jungs von Flamengo Rio de Janeiro, der Mannschaft mit der größten Fangemeinde Brasiliens. Aber in diesem Jahr wünscht sie sich, dass Brasilien so schnell wie möglich aus dem Wettbewerb fliegt.
Noch vor sieben Jahren freuten sich 80 Prozent der Brasilianer auf das Turnier im eigenen Land. Heute glauben 55 Prozent, dass die WM mehr Schlechtes als Gutes bringt. Sie wollen nicht über Fußball reden, sondern über Brasilien. Ihre Seleção ist ihnen abhandengekommen.
Maria de Lourdes do Carmo trägt ein T-Shirt in den Farben des Nationaltrikots, es ist knallgelb mit einem grünen Kragen. Auf der Brust steht in großen grünen Buchstaben: „Ocupa Copa“. Das heißt so viel wie: „Besetzt die WM“. De Lourdes geht im Moment manchmal vier-, manchmal fünfmal in der Woche demonstrieren. Sie kommt gerne als eine der Ersten auf die Demos, redet dann mit den Anwälten vom Menschenrechtsverein oder klatscht zur Musik des Protestblasorchesters. Sie gehört zur Bewegung der Straßenhändler, der Camelôs.
Jeden morgen um fünf Uhr, wenn es in Rio de Janeiro noch dunkel ist, fährt sie in die Stadt und schließt dort den weißen Kombi auf. Sie trägt Eisenstangen hinaus, wuchtet Holzbretter hinterher, baut ihren Verkaufsstand zusammen. Sie hängt in Tigermuster gefasste Unterhemden an Plastikbügel und legt grau melierte Polyesterkleidchen auf die Holzbretter. Von dem Straßengeschäft lebt sie mit ihrem Mann und ihren drei Kindern.
Händlerinnen wie Maria de Lourdes do Carmo prägen das Straßenbild der Stadt. Sie verkaufen Gürtel und Hüte, Popcorn und Kugelschreiber. Wenn in de Lourdes’ Viertel, wo das WM-Stadion Maracanã steht, die Weltmeisterschaft beginnt, dann dürfen ihre Kollegen dort nicht mehr einfach ihre Getränkedosen und Süßigkeiten verkaufen. Gemeinsam mit den brasilianischen Behörden hat die Fifa eine kommerzielle Bannmeile errichtet. Produkte, die nicht von WM-Sponsoren stammen, sind dort nicht erlaubt. In den Fifa-Zonen rund um die Stadien und in den Zentren der Austragungsorte gelten eigene Gesetze, Fifa-Gesetze. Möglichst viel von dem Geschäft mit der WM soll den lizenzierten Partnern zugutekommen. Der Weltfußballverband hat sich auch zusichern lassen, seine Gewinne in Brasilien nicht versteuern zu müssen.
Es sind Szenen wie die von den Protesten der Straßenhändler, die vor der WM das Bild von Brasilien bestimmen. Tausende Busfahrer haben in Rio de Janeiro gestreikt. In Recife, im Nordosten des Landes, patrouillieren Panzer auf den Strandstraßen. In São Paulo stürmen Vermummte Autohäuser. Polizisten überlegen öffentlich, während der Weltmeisterschaft ihre Arbeit ruhen zu lassen. Frühere brasilianische Nationalspieler wie Romario oder Rivaldo, der Weltfußballer von 1999, zählen inzwischen zu den größten Kritikern des Turniers.
Das liegt vor allem an den ungeheuren Kosten und der sozialen Schieflage im Land. 9,5 Milliarden Euro wird die WM Brasilien nach neuesten Schätzungen kosten. Allein für die Stadien muss der Staat mit rund drei Milliarden Euro aufkommen. Eigentlich sollten sie komplett privat finanziert werden. Gemessen an den Kosten pro Stationsitzplatz, ist es die mit Abstand teuerste Fußballweltmeisterschaft der Geschichte. Das ergab eine Studie des Beratungsunternehmens KPMG. Zehn der 20 teuersten Stadien der Welt stehen künftig in Brasilien.
Europäer wundert der starke Widerstand gegen eine Fußball-WM in einem Land, zu dem ihnen neben Karneval und Copacabana vor allem der Fußballstar Ronaldo einfällt. Sind dort nicht alle fröhlich, sobald der Ball rollt? Zur Wahrheit jenseits der Klischees gehört, dass der Protest gerade deswegen derart scharf ist, weil Fußball so ernst genommen wird. Als die brasilianische Mannschaft bei der Weltmeisterschaft 1950 im eigenen Land das Finale gegen Uruguay verlor, nannte der Schriftsteller Nelson Rodrigues das später ganz ohne Ironie „Brasiliens Hiroshima“.
Schuld an der Niederlage, befand damals die Tageszeitung Correiro de Manhã, war auch die Spielkleidung. Bis dahin hatte die Seleção in Weiß mit blauem Kragen gespielt, was nur entfernt an die Nationalflagge erinnerte. Für den Correiro ein Mangel an „psychologischem und moralischem Symbolismus“.
Die Zeitung rief einen Designwettbewerb aus. Alle Farben der brasilianischen Flagge – Blau, Weiß, Grün und Gelb – mussten verwendet werden. Ein junger Designer kam nach etlichen Entwürfen auf die bis heute gültige Kombination: Gelbes Hemd mit grünem Kragen und Bündchen, blaue Hose mit einem weißen Streifen sowie weiße Stutzen mit grünen und gelben Verzierungen. Mit dem neuen Hemd kamen auch die Siege. Kaum ein Kleidungsstück auf der Welt ist so mit Bedeutung aufgeladen wie dieses.
Zum Mythos wurde es 1958 durch zwei Spieler, einen 17-Jährigen und einen mit krummen Beinen. Pelé und Garrincha.
Bei der WM in Schweden 1958 kamen sie erst im dritten Spiel zum Einsatz, gegen die Sowjetunion. Noch heute gehören die ersten drei Minuten dieses Spiels zu den besten einer WM. Beide hatten schon den Pfosten getroffen, ehe ihr Kollege Vavá den Angriffswirbel zum 1:0 abschloss. Es war der Anfang der goldenen Zeit der Seleção. 1958, 1962 und 1970 gewannen sie den Titel. Zusammen verloren Pelé und Garrincha nicht ein Spiel. Im Grunde prägen die beiden noch immer das Bild, das Menschen überall auf der Welt vom brasilianischen Fußball haben.
349 Reais kostet das Hemd heute in der Nike-Boutique in der Prachtstraße von Rio de Janeiro, die zwei der reichen Viertel verbindet. Das sind rund 113 Euro, ein Sechstel des durchschnittliche Monatslohns in Brasilien. Das zweistöckige Geschäft ist holzvertäfelt, auf dem Boden ist Parkett verlegt. Die riesige Klimaanlage surrt leise, die kühle Luft signalisiert Wohlstand.
Dort hängt es mitten im Raum von der Decke, lasergeschnittene Luftlöcher an den Hüften und zwei wichtige kleine Zeichen auf der Brust. Über dem Herzen prangt das Emblem des brasilianischen Fußballverbandes, darüber fünf Sternchen. Jedes steht für einen WM-Titel. Rechts auf der Brust das Markenlogo von Nike. Der aktuelle Nike-Slogan lautet: „Dare to be Brasilian“, „Trau dich, Brasilianer zu sein“.
Draußen vor der Tür steht Roberto Gonçalves, ein Straßenverkäufer wie Maria de Lourdes do Carmo. Sein Handwagen ist voll mit Trikots, er verkauft sie für 25 Reais. Original seien sie natürlich nicht, sagt er und grinst breit. Sie sind aus Baumwolle, aber zumindest kanariengelb. Roberto Gonçalves will von dem Mythos des Trikots und von der Weltmeisterschaft profitieren, dafür kommt er jedem Morgen aus Rios armem Norden hergefahren und stellt sich neben die Nike-Filiale.
Dem Sportartikelhersteller Nike ist es viel wert, das Trikot der Seleção hier in Rio verkaufen zu dürfen – und rund um die Welt. 35 Millionen Dollar sind es pro Jahr, in diesem WM-Jahr sogar 45 Millionen, die die Firma an den brasilianischen Fußballverband überweist.
1996 wurde der erste Vertrag ausgehandelt, der bis heute das globale Image des brasilianischen Fußballs prägt. Die Unterhändler priesen den Deal als Segen für den brasilianischen Fußball. Viele sahen das anders. Brasiliens Fußball habe sich nun endgültig verkauft, sagten sie.
Kaum hatte Nike den Vertrag mit dem Fußballverband unterschrieben, begann eine Imagekampagne, die bis heute reicht. Um das Geld über Trikotverkäufe wieder hereinzuholen, präsentierte Nike Brasilien als eine Ansammlung von Ballkünstlern. In einem Fernsehspot tricksten sich die Spieler durch einen Flughafen.
Wer heute zum Beispiel in Berlin spazieren geht, begreift, was Nike aus diesem Vertrag gemacht hat. An grauen Fassaden prangen haushohe Graffiti von brasilianischen Fußballstars. Der Stürmer Ronaldinho ist besonders oft zu sehen. Die Botschaft: Es geht nicht um ein Produkt, sondern um Lifestyle, um Straßenkunst. Darunter steht manchmal: „Authentic“, „Nike“.
Untersuchungsausschuss zu Ronaldos WM-Finale
Aus der Kooperation zwischen dem Fußballverband und Nike wurde bald eine politische Seifenoper: Als Brasilien im Finale 1998 gegen Gastgeber Frankreich 0:3 verlor, sorgte vor allem der Auftritt des Superstars Ronaldo im Endspiel für Gerüchte und Verschwörungstheorien. Ronaldo, seinerzeit die 87 Kilogramm schwere Wunderwaffe der brasilianischen Auswahl, war ein paar Stunden vor dem Spiel kollabiert, er soll Schaum vor dem Mund gehabt haben. Im Finale lief er dennoch auf, taumelte aber vor allem auf dem Spielfeld umher. Bald hieß es, Nike habe Druck gemacht, damit der bekannteste brasilianische Spieler nicht bloß auf der Ersatzbank säße.
Ein Jahr später wurde bekannt, dass die Firma tatsächlich Einfluss auf die Spielplanung des Teams nehmen durfte. Eine Klausel sicherte Nike über zehn Jahre 50 Freundschaftsspiele zu, bei denen jeweils mindestens acht Stammspieler antreten mussten. Drohte die Seleção in Privatbesitz überzugehen?
Ein Kommunist mit Schnurrbart namens Aldo Rebelo, der gern graue Anzüge trug, verlangte einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss, weil der Vertrag die „verfassungsmäßig garantierte Souveränität, Autonomie und nationale Identität des Landes“ verletze. Des Landes, nicht des Fußballs.
Der Ausschuss kam, begleitet von einem nationalen Schauspiel. Auch Brasiliens WM-Trainer Mário Zagallo und Stürmerstar Ronaldo mussten vor dem Parlament aussagen. Zwar konnten die Vorwürfe in Sachen Ronaldo-Finale nicht nachgewiesen werden, aber als der Ausschuss schon mal dabei war, nahm er sich gleich den brasilianischen Fußballverband vor. Das Ausmaß an Korruption, das ans Licht kam, war grotesk. In einem brasilianischen Bundesstaat beschäftigte der Fußballverband 27 Verwandte seines Präsidenten.
Aldo Rebelo, der Kommunist mit dem Untersuchungsausschuss, ist heute Sportminister von Brasilien. Er muss nun verteidigen, statt anzugreifen.
Rebelo war Präsident der Abgeordnetenkammer Brasiliens und hat schon einige große Kämpfe ausgefochten. Als er sich 2006 dafür einsetzte, dass die brasilianischen Brötchen, zum Wohle des Volkes und der Maniokproduzenten, zu mindestens zehn Prozent aus Maniokmehl gebacken sein sollten, lehnte sich die mächtige Weizenindustrie mit allem, was sie hatte, dagegen auf; ausgerechnet im Wahlkampf. Aber was war schon die Maniokkampagne gegen das, was Aldo Rebelo heute ausstehen muss. Die ganze Welt schaut nach Brasilien und fragt sich, ob das Land einlöst, was sein Markenkern verspricht: Samba, Fußball, Heiterkeit.
Man sieht ihn in diesen Tagen manchmal vor einem schwarzen Aktenschrank und einer Topfpflanze sitzen. Aldo Rebelos graues Haar ist licht geworden, er trägt es nach hinten gekämmt. Die Bilder stammen aus Videochatkonferenzen im Internet, wo Rebelo momentan regelmäßig auftritt. Vielleicht will er die Generation der Protestler dort erreichen, wo sie sich meist aufhält, in den sozialen Netzwerken. Erst kürzlich gab es wieder so ein Treffen, das man im Netz verfolgen konnte. Es hat etwas Verzweifeltes. Die Mehrheit freue sich auf die WM, sagte Rebelo, die meisten Kritiker seien Pessimisten oder Journalisten. Die Stadien die teuersten der Welt? „Stimmt nicht.“ Rassismus in Brasilien? „Gibt es nicht.“ Gewalt auf den Straßen? „Haben wir im Griff.“ Was erwartet er von der WM? „Eine Riesenparty.“
Rebelo wirkt wie eine Gestalt aus der Vergangenheit der Linken, den marxistischen Jargon beherrscht er perfekt. Sein Vater arbeitete auf einer Rinderfarm im armen Nordosten Brasiliens. Von dort schaffte Rebelo es auf die Universität, wo er einer der Anführer der Studentenbewegung gegen die Diktatur wurde. 1989 wurde er mit 33 Jahren ins Parlament gewählt. Dort schlug er viele Schlachten mit dem Sozialdemokraten Lula. Sie endeten in dessen Triumph bei der Präsidentschaftswahl 2002. Seitdem ist die Linke an der Macht in Brasilien. Doch die Verbindung zum Volk, so denken viele, ist ihr in der Hauptstadt Brasilia irgendwann verloren gegangen. 676 Aufrufe hat die Aufzeichnung des Videochats auf YouTube. Aldo Rebelo ist der Sportminister des fünftgrößten Staates der Welt. Die WM ist ein Millionenereignis. Trotzdem interessiert sich niemand für das, was Rebelo zu sagen hat.
Aber er lässt nichts unversucht, den Brasilianern zu erklären, warum diese WM doch eigentlich gut für sie ist.
Denn Rebelo und seine Regierung brauchen ein sechstes Sternchen auf dem T-Shirt der Seleção, einen neuen WM-Sieg. Im Oktober sind in Brasilien Präsidentschaftswahlen, dann geht es auch um die Zukunft dieser Regierung. Im Moment ist die Stimmung im Keller. Aldo Rebelo hofft, dass der Mythos der Seleção für ihn arbeitet. Wie viele Politiker vor ihm.
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1970 sind selbst die Masseure aus der Armee
Gétulio Vargas, 1930 durch einen Staatsstreich an die Macht gekommen und bis 1945 Präsident der brasilianischen Republik, benutzte den Sport, um die Nation nach seiner Vorstellung zu einen. Er ersann ein nationales Komitee, ließ regionale Verbände gründen und sorgte für eine Finanzierung der Nationalmannschaft. Bei der Weltmeisterschaft in Frankreich 1938 wurde Brasilien Dritter. Das Land war im Rausch. Die damals berühmteste brasilianische Dichterin, Gilka Machado, schrieb: „Brasilianische Seelen – weit entfernt – überwinden den Raum, vereinigen sich mit euch, folgen auf euren Fußspuren dem fliegenden Ball, dem entscheidenden Schuss zum Ruhm des Vaterlands.“
Die Geschichte der brasilianischen Fußballauswahl ist auch die Geschichte einer Aneignung durch die Politik, die immer wiederkehrt. Als die brasilianische Nationalmannschaft 1970 den Titel holte, sollen selbst die Masseure zur Armee gehört haben. In Brasilien herrschte die Militärdiktatur. Staatschef Emilio Médici umgab sich besonders gern mit den Fußballspielern, weil er wusste, dass mit ihnen Politik zu machen war. Während Oppositionelle gefoltert und ermordet wurden, umarmte Wunderspieler Pelé den General Médici vor den Kameras.
Die Diktatur hielt sich den brasilianischen Fußballverband gewogen. Über Jahre knüpfte die militärische Führung engste Verbindungen zum autoritären Chef des Verbands, João Havelange, der später auch Fifa-Chef wurde und den internationalen Fußballverband 24 Jahre lang regierte. Dabei kassierte er Millionen an Schmiergeldern. Während Sportreporter aus aller Welt über die feinen Dribblings und die präzisen Pässe der Seleção nachdachten, installierten Havelange und seine Familie in den Büroräumen des brasilianischen und internationalen Fußballverbands ein System, das ihre Macht durch Korruption sichern sollte.
In Brasiliens Fußballverband übernahm 1989 Havelanges Schwiegersohn das Sagen, Ricardo Teixeira. Er war es, der vor sieben Jahren an der Seite des damaligen brasilianischen Präsidenten Lula den Zuschlag erhielt, die WM 2014 in Brasilien zu organisieren. Heute weilt Teixeira meist in den USA, weil es in Brasilien kaum eine Straftat gibt, die ihm noch nicht vorgeworfen wird, darunter Irreführung von Behörden, Korruption, Steuerhinterziehung und der Missbrauch von Verbandsgeldern für private Zwecke. Ehe sich Teixeira aus dem Staub machte, bedachte er seine Familie: Joana Havelange, Tochter aus erster Ehe, leitet heute das lokale Organisationskomitee der WM, sein Schwager Leonardo Wigand trägt die Verantwortung für die Finanzen. Und seinem Onkel Marco Antonio Teixeira hat er noch als Präsident für dessen fünfjährige Tätigkeit im Fußballverband eine Entschädigung von 800.000 Euro gezahlt.
Die Straßenhändlerin Maria de Lourdes do Carmo schleppt sich mit drei anderen Frauen den steilen Hügel des Morro do Salgueiro hinauf, einer der ältesten Favelas der Stadt.
Es riecht mal nach schwarzen Bohnen, mal nach Urin und mal nach frischer Luft. In den Straßen stehen ausgeschlachtete Kleinbusse, in denen junge Männer sitzen und auf ihren Handys tippen. Der Bolzplatz ganz oben ist ringsherum mit Netzen gerahmt, an den Wänden Graffiti, Dutzende Kinder laufen barfuß umher, einige spielen mit einem abgenutzten Ball.
Auch dieses Szenario wurde mittlerweile erobert, in die Vermarktung der Seleção integriert, in die Neudeutung des globalen Fußballgefühls. Es verbindet diese Hügel in Rio de Janeiro direkt mit den Kinderzimmern und Wohnstuben in Europa. Wenn dort die Spielekonsolen angehen, dann können die Spieler nicht nur die Männer der brasilianischen Seleção in ihrer Nike-Montur steuern. Sie können auch wählen, ob sie lieber ein Finale in Rios WM-Stadion Maracanã austragen oder eine Runde Straßenfußball spielen. Kicken im Slum.
Hier, in Armenvierteln wie diesem, wohnen die Busfahrer, die Kellnerinnen, die Portiers, die Taxifahrer, die Verkäuferinnen. Die Dienstleistungsgesellschaft Brasiliens. Wenn demnächst ihre Seleção aufläuft, dröhnen aus dem Maracanã-Stadion unten die Fangesänge herauf. Menschen aus der ganzen Welt werden dort den Spielen zusehen. Menschen, die es sich leisten können.
Maria will hier auf dem Hügel eine alternative WM ausrichten mit dem Comitê Popular da Copa, dem Volkskomitee zur WM. Wenn das Bündnis diese WM nicht verhindern kann, dann will es die Meisterschaft wenigstens zu ihrer eigenen machen. Diese WM findet in einem Metallkäfig auf zerschlissenem Kunstrasen statt. Dort spielen je vier Männer- und vier Frauenteams gegeneinander.
Die Aktivistin spricht gern in der Wirform
Das Bündnis hat sich mit dem Ziel gegründet, dass Großereignisse künftig mit der Bevölkerung und nicht gegen sie stattfinden. Es steht für ein anderes Brasilien. Für jenes, wo Bürgerhaushalte erfunden wurden und Weltsozialforen. In Rio wurden in den vergangen Jahren Schätzungen zufolge mehr als 100.000 Favelabewohner vertrieben. Auch, damit die WM-Touristen schneller ins Stadion kommen.
Maria de Lourdes do Carmo ist hier als Vollzeitaktivistin. Morgens baut sie in der Stadt ihren Stand auf, um neun übernehmen ihre Kinder. Sie zieht weiter, politische Arbeit erledigen. Nicht erst die WM hat sie politisiert; ihr Protest begann schon vor elf Jahren, ausgelöst von Maßregelungen gegen die Straßenhändler durch die Polizei.
De Lourdes spricht gern in der Wirform von den Vertreibungen, auch wenn sie selbst wahrscheinlich nicht davon betroffen sein wird. Sie verkauft keine Süßigkeiten am Stadion, sondern Damenkleidung in der Stadt, und daran wird sie wohl auch während der Weltmeisterschaft niemand hindern. Aber die WM ist ein Kristallisationspunkt der Auseinandersetzungen rund um die Straßenhändler. Eine Plattform für ihren politischen Kampf.
De Lourdes will die Weltmeisterschaft nicht, den Wettkampf der Seleção im eigenen Land, sagt sie. Aber auch sie kann ihn benutzen. Er ist eine Chance.
■ Martin Kaul, 32, taz-Redakteur, ist Deutsch-Brasilianer und hat Brasilien häufig bereist. Derzeit lebt er mit seiner Familie in Rio de Janeiro, um für die taz über die Begleiterscheinungen der WM zu berichten
■ Constantin Wißmann, 33, sonntaz-Autor, hat schon in fünf Stadtteilen Rio de Janeiros gewohnt. Momentan erlebt er in der Favela Vidigal, wie Gentrifizierung auf Brasilianisch funktioniert