Waren die russischen Spionageprofis Amateure?

Putin, der Geheimdienst oder russische Oligarchen: Theorien, die den Tod des russischen Exspions Litvinenko zu erklären versuchen, gibt es viele. Doch keine überzeugt

DUBLIN taz ■ Auch 18 Tage nach dem Tod des russischen Exspions Alexander Litvinenko, der am 1. November in seinem Londoner Exil mit Polonium-210 vergiftet wurde, ist die Frage nach den Tätern völlig offen. Theorien gibt es viele, plausibel sind sie alle nicht.

Fest steht, dass sich der 43-Jährige im Laufe seines Agentenlebens und auch danach viele Feinde gemacht hat. Litvinenko brachte es im Geheimdienst KGB bis zum Oberstleutnant. Er sollte die Korruption innerhalb der Organisation bekämpfen, scheiterte dabei jedoch und überwarf sich deshalb mit seinem damaligen Chef, dem heutigen Präsidenten Wladimir Putin. Der habe seine Vergiftung angeordnet, diktierte Litvinenko angeblich in einem Abschiedsbrief auf dem Sterbebett.

Das Motiv sei Rache gewesen: In seinem Buch „Blowing up Russia“ hatte Litvinenko behauptet, dass der FSB hinter den Bombenanschlägen auf Wohnhäuser in Moskau und anderen Städten steckte, bei denen 1999 mehr als 200 Menschen starben. Putin beschuldigte damals Tschetschenien und rechtfertigte damit den zweiten Krieg gegen die abtrünnige Republik.

Warum aber sollte Putin den Auftrag für einen solch spektakulären Mord geben, der das Augenmerk der Weltöffentlichkeit auf den Fall lenkt? Die früher vom bulgarischen Geheimdienst favorisierte Methode, bei der unliebsame Leute mit einer vergifteten Regenschirmspitze aus dem Weg geräumt wurden, wäre bei Litvinenko effektiver gewesen.

Der Kreml bezeichnete die Anschuldigungen denn auch als „blanken Unfug“ und vermutet, dass der Kreis um den in London lebenden Milliardär Boris Beresowski die Tat begangen habe, um Moskau zu diskreditieren. Beresowski, der sein Geld in Russland mit Öl und Autos gemacht hat, sich aber mit Putin zerstritt und ins Exil nach England flüchtete, gehört zu den schärfsten Kreml-Gegnern. Aber er war mit Litvinenko befreundet, und selbst wenn man ihm ein kaltblütiges Bauernopfer zutraute, würde er kaum sein Aufenthaltsrecht in Großbritannien riskieren.

Marina Litvinenko, die Witwe, glaubt, dass der FSB hinter der Tat steckt. Die 44-Jährige sagte gestern: „Natürlich war es nicht Putin selbst.“ Aber ihr Mann habe viele Verbrechen von FSB-Mitarbeitern aufgedeckt, er sei weniger Agent als vielmehr Kriminalist gewesen. „Ich bin mir sicher, dass sie ihm dafür nicht vergeben haben“, sagte sie. Aber warum haben sie bis jetzt damit gewartet? Oder war es gar nicht der erste Mordanschlag? Die Times berichtete im Mai vorigen Jahres, dass jemand einen Kinderwagen mit einer Brandbombe in Litvinenkos Haus geschoben habe.

Am einleuchtendsten scheint die Theorie zu sein, dass der Exagent russische Oligarchen und korrupte Beamte erpressen wollte. Das behauptet jedenfalls die in London lebende Politikstudentin Julia Svetlichnaja. Litvinenko habe ihr vorgeschlagen, „Geld zu machen“ mit den belastenden FSB-Dokumenten, die ihm vorlägen. Auch von der ermordeten Journalistin Anna Politkowskaja könnte der Exspion solches Material bekommen haben.

Gehörten Dimitri Kowtun, der nach Angaben der Hamburger Polizei im Besitz von Polonium gewesen ist, und Andrej Lugowoi zu den Erpressungsopfern? Beide trafen Litvinenko mehrmals, zuletzt am 1. November, dem Tag, an dem ihm das Gift verabreicht wurde. In der Pine Bar im Millennium Hotel, wo das Treffen stattgefunden hatte, wurden Poloniumspuren gefunden. Sieben Barangestellte sind mit dem radioaktiven Isotop verseucht. Deshalb nimmt die britische Polizei an, dass Litvinenko in dieser Bar vergiftet wurde. Aber Lugowoi und Kowtun sind selbst mit Polonium verstrahlt, so behauptet jedenfalls die Moskauer Staatsanwaltschaft.

Sollten sich Profis, die sich mit Polonium auskennen, bei ihrem Mordanschlag dermaßen tölpelhaft angestellt haben, dass sie selbst dabei in Lebensgefahr gerieten? Der russische Generalstaatsanwalt glaubt das nicht: Er hat ein Ermittlungsverfahren nicht nur wegen Mordes an Litvinenko, sondern auch wegen Mordversuchs an Kowtun eingeleitet. RALF SOTSCHECK