: Quacksalber Patient
Die Bedeutung der Selbstmedikation wächst: Mit rezeptfreien Mitteln aus der Apotheke kann man sich den aufwändigen, teuren Gang zur Arztpraxis schenken. Geht das gut?
VON ANNA LEHMANN
„Es brennt. Hier.“ Eine Frau steht in der Apotheke, sie entblößt den Hals und fasst sich an die Kehle. Die Apothekerin guckt flüchtig hin, geht zum Regal, nimmt einen Hustensaft heraus. „Probieren Sie das mal. Und wenn’s schlimmer wird, gehen Sie zum Arzt.“ Die Frau bezahlt, nimmt die Packung und geht – bestimmt nicht in die nächste Praxis.
Jeder zweite Deutsche behandelt sich selbst und kauft Arzneimittel, ohne vorher den Arzt zu konsultieren – die Bedeutung der Selbstmedikation wächst. Das hat das Wissenschaftliche Institut der AOK (Wido) festgestellt. Nach einer in diesem Jahr veröffentlichten Studie kauft sich jeder Versicherte im Durchschnitt sechs Präparate jährlich ohne Rezept – zusätzlich zu den acht Packungen, die vom Arzt verschrieben werden. „Der Anteil der Versicherten, die angeben, sich bei leichten Erkrankungen selbst zu kurieren, ist seit den 90er-Jahren gestiegen“, heißt es.
„Das ist tägliche Routine“, sagt Autor Klaus Zok vom Wido. Interessanterweise würden die frei verkäuflichen Mittel häufig parallel zu den verschriebenen angewandt. Zok nennt zwei Gründe: Einerseits gebe es ein wachsendes Medikamentenangebot in Apotheken und Drogeriemärkten: „Wellness ist im Trend, die Apotheken werben gezielt in diesem Bereich.“ Sie erreichen damit vor allem die Mittelschicht. Die Wido-Mitarbeiter haben festgestellt, dass der Anteil der in Eigeninitiative gekauften Präparate mit dem Einkommen steigt. Andererseits sparen die Menschen aus praktischen Gründen den Doktor. Die rot-grüne Bundesregierung hat mit der Gesundheitsreform von 2004 dafür gesorgt, dass fast die gesamte Bandbreite der Erkältungsmittel aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen gestrichenen wurde. Gleichzeitig wurde die Praxisgebühr eingeführt. „Patienten mit subjektiv geringen Gesundheitsproblemen gehen eigeninitiativ in die Apotheke“, heißt es in der Wido-Studie.
„Klar, das merkt man schon“, sagt der Inhaber einer Apotheke im Berliner Bezirk Kreuzberg. Hinter ihm im dunklen Holzregal stapeln sich die Arzneien, die von der Kasse nicht mehr bezahlt werden: Zäpfchen gegen Grippe, Nasentropfen, Magnesiumbrausetabletten, Naturheilmittel. Dieses Sortiment, erzählt er, werde am häufigsten verlangt.
Auch die Zahlen der Bundesvereinigung deutscher Apotheken spielen den Trend zur Selbstmedikation wieder: 690 Millionen Packungen gingen letztes Jahr über die Theke, 50 Millionen mehr als noch vor fünf Jahren. Die Umsätze zogen entsprechend an – ein Plus von 1 Milliarde Euro gegenüber 2002 verbuchten Apotheker im letzten Jahr allein mit freiverkäuflichen Medikamenten.
„Das heißt aber nicht, dass wir mit diesen Zuwächsen, die Einbußen wettmachen“, klagt der Apotheker. Etwa 30 Prozent der Einnahmen habe ihn die letzte Reform gekostet. „Bei uns im Kiez überlegen die Leute, ob sie sich ein Stück Brot oder ein Medikament kaufen.“ Der nächste Kunde hat ein Rezept dabei. Er kramt es aus einer fleckigen Jogginghose heraus. „Bin zuzahlungsbefreit“, krächzt er.
Doch auch in der schicken Mitte Berlins kalkulieren die Kunden. „Viele kommen in die Apotheke, weil sie die Praxisgebühr sparen wollen“, erzählt der Inhaber. Seine Apotheke liegt in einer Geschäftspassage. Er hat sich äußerlich geschickt seinen Kunden angepasst: blaues Hemd, eckige Brille, Seitenscheitel. Die Anwälte und Journalisten, die hier arbeiten, überschlagen die Wartezeit beim Arzt plus 10 Euro und kommen zu dem Ergebnis: „Da gehen sie lieber gleich zu uns. Hier bekommen sie kostenlose Beratung und ein Produkt.“ Am besten laufen hier leichte Grippemittel und homöopathische Sachen. Man müsse sorgfältiger beraten, gibt der smarte Apotheker zu bedenken. Wenn Patienten von ihm wissen wollen, woran sie leiden, schicke er sie zum Arzt.
So ist es gesetzlich vorgesehen.
Bereits 1241 ordnete Staufenkönig Friedrich II. an, dass Ärzte keine Apotheken besitzen dürfen und Apotheker sich nicht in die ärztliche Diagnostik einzumischen haben. Das ist bis heute so, und die Kammern beider Berufsstände wachen darüber, dass die Grenzen eingehalten werden. Konkurrenz zum Unwohle des Patienten soll so vermieden werden.
Doch die ärztliche Beratung verlagert sich schleichend auf die Apotheker. Etwa 10 Prozent seiner Patienten habe er in den letzten drei Jahren verloren, meint der Allgemeinmediziner und Naturheilkundler Wilhelm Breitenbürger. Erst kürzlich kam eine Patientin in seine Kreuzberger Praxis, die über Schmerzen beim Wasserlassen klagte. Zehn Tage hatte sie die Blasenentzündung verschleppt. In der Apotheke hatte man ihr einen Extrakt aus Bärtentraubenblättern empfohlen. Der Arzt ärgerte sich: „Viele Apotheker verkaufen Dinge, die ich nicht verschreiben würde.“ Echinacin zum Beispiel, ein Renner, der sich aber nur am Anfang einer akuten Erkältung empfehle. „Später würde ich zu Umckaloaba raten.“
Auch zu ihr kämen häufiger Leute, die nicht die üblichen Schmerz- oder Erkältungsmittel verlangten, sondern eine Diagnose, erzählt eine Apothekerin. Ihre Apotheke liegt in einer Einkaufsstraße für den gehobenen Geschmack. Gerade hat sie einer jungen Frau erklärt, dass sie ein bestimmtes Produkt der Firma La Roche nicht führe. „Manche Kunden wollen, dass ich mir mal ihre Arme angucke, wegen irgendwelcher Hautgeschichten“, berichtet sie. Guckt sie sich das an? „Nein, ich mach ein komisches Gesicht und schick sie zum Arzt.“