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Archiv-Artikel

Immer neue Barbarei

KRITISCHE THEORIE Vor fast 70 Jahren sollte die „Dialektik der Aufklärung“ die Aufklärung von ihrer Verstrickung mit der Herrschaft lösen. Heute ist sie aktueller denn je, findet Gunzelin Schmid-Noerr

„Was wir uns vorgesetzt hatten, war tatsächlich nicht weniger als die Erkenntnis, warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt“. Die Zeilen entstammen jener, vor bald 70 Jahren von den beiden Hauptvertretern der Kritischen Theorie, Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, im amerikanischen Exil verfassten Schrift über die „Dialektik der Aufklärung“. Dass die vollends aufgeklärte Zivilisation nicht menschliche Freiheit zeitigte, sondern die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs und die nationalsozialistische Barbarei gebar, macht den gesellschaftlichen Erfahrungshintergrund der Autoren aus; dass sie nicht trotz, sondern vermittels des Fortschritts der Aufklärung triumphierte, das Thema ihres Buches. Nicht wollten Adorno und Horkheimer, wie ihnen oftmals vorgeworfen wird, damit das Ende der Idee der Aufklärung besiegeln. Vielmehr intendierten die kritischen Theoretiker, mittels der Selbstkritik der Aufklärung, diese von ihrer Verstrickung mit Herrschaft zu lösen – Aufklärung über Aufklärung.

Nach der Aktualität eines solchen Versuches gefragt, fällt das Urteil beinahe einhellig aus, nicht allein im akademischen Milieu. Die Grundthese jener Schrift, dass Aufklärung in rationale Mythologie umschlage, sei eine „Großspekulation“, heißt es etwa in der Zeit, von der „heute nichts mehr übrig“ bleibe. Das Buch, es besteht aus fünf Essays und einer Reihe kürzerer, als Entwürfe gekennzeichneter Aphorismen, gilt ohnehin als sperrig bis kryptisch, sei voller Übertreibungen und rhetorischer Schleifen, vorgetragen in hermetisch- apodiktischem Stil. Anzufangen, so der Tenor, ist damit nicht mehr viel.

Gunzelin Schmid-Noerr, Mitherausgeber der gesammelten Schriften Max Horkheimers und ehemaliger Leiter des Horkheimer-Archivs in Frankfurt am Main, geht der Frage nach der Aktualität der „Dialektik der Aufklärung“ in einer anderen Weise nach. In seinem Vortrag „Integration und sozialer Zerfall. Zur Aktualität der ‚Dialektik der Aufklärung‘“, mit dem die Gruppe Kritikmaximierung am Montag ihre zweiteilige Reihe „‚Dass Auschwitz nicht noch einmal sei‘. Kritische Theorie heute“ beschließt, plädiert Schmid-Noerr dafür, die in jener Schrift aufgespeicherten Erfahrungsgehalte zu bewahren und die Grundfigur neu, unter veränderten Bedingungen, zu reformulieren. „Eine Auseinandersetzung mit der Kernthese der Dialektik der Aufklärung“, so Schmid-Noerr, „ist nur dann fruchtbar, wenn wir sie nicht als versteinert lesen, sondern gleichsam wieder verflüssigen und rekontextualisieren.“ Die These vom Umschlagen der Aufklärung in den blinden Mythos sei jedenfalls heute, „unter den Bedingungen der Durchdringung des gesamten Lebens mit den Anforderungen und Ergebnissen von Wirtschaft, Technik und Wissenschaft“, aktueller denn je. BASTIAN BREDTMANN

■ Mo, 10. 1., 19 Uhr, Uni Hauptgebäude (ESA B), Ed.-Siemers-Allee 1