: Textbuch geklaut
RENÉ POLLESCH Kaum noch zählen lassen sich Theaterabende von René Pollesch. „Gasoline Bill“, in München mit Sandra Hüller inszeniert, ist ein virtuoses Meisterwerk, eingeladen zu den Autorentheatertagen in Berlin
VON SIMONE KAEMPF
Der Traum vom Eigenheim? Hat sich nur halb erfüllt in René Polleschs „Gasoline Bill“, eingeladen zu den Autorentheatertagen am Deutschen Theater. Das Reihenhäuschen, das hinter dem Glitzervorhang zum Vorschein kommt, ist eine buchstäbliche Haushälfte, ein halbes Haus. Die Küche fehlt, die vierte Wand auch. Ins Innere führen Westernsaloontüren, über denen groß „Keep Out“ geschrieben steht.
Zum Draußenbleiben also fordert dieser Schuppen auf, vor dem die Schauspieler der Münchner Kammerspiele auch erst einmal stehen bleiben, die ersten Zigaretten rauchend, die sich zu einer gefühlten Schachtel summieren an diesem Abend. So führt der Abend gleichsam Diskurs und treibt seine Späße mit der Behaglichkeit des Eigenheims, mit Lebensmodellen, der Erlösungshoffnung des Verliebtsein, den ganzen Paradoxien zwischen Schein und Sein.
Freud’sche Theorieverdrehungen kommt auch dazu. „Der innere Reichtum ist ein Schwindel“, deswegen machen die Psychoanalytiker das Subjekt leer von den ganzen falschen Gefühlen, stellt Schauspieler Benny Claessens fest, der in seinem schwarzen Cowboyanzug einem Western entsprungen scheint. Auch Sandra Hüller, Katja Bürkle, Kristof Van Boven – alle vier Schauspieler treten mit Cowboyhüten auf. Nicht nur wegen der schillernden Kostüme verfällt man ihnen mit Freude, sondern auch weil sie, die so eloquent frei sein wollen von Selbstverwirklichung und Seelenreichtum, gleichzeitig daran zweifeln, den Mitmenschen damit dienlich zu sein.
Wie viele Abende René Pollesch mittlerweile auf die Bühne gebracht hat, lässt sich kaum zählen. Seit Ende der 90er Jahre ist einiges zusammengekommen an den vielen Theatern, an denen er arbeitet. In dem seriellen work in progress zwischen Hamburg, Stuttgart oder Berlin – in zwei Wochen hat sein nächster Abend an der Volksbühne Premiere – gerät auch immer mal wieder etwas zu statisch und farblos. Doch der Münchner „Gasoline Bill“ ist ein virtuoses Meisterwerk.
Typisch auch hier das Umkreisen der Themen, ohne eine Erkenntnis endgültig festzuklopfen. Aber Pollesch ist immer dann am besten, wenn sich seine Gala-artigen Inszenierungen unterhaltsam ans Publikum wenden, sich Spaß mit Theorie vermischt und die Schauspieler wie hier kleine Glanznummer liefern, sich mal an den großen Kronleuchter über der Bühne hängen oder mit den Fingern in einer Bowlingkugel stecken bleiben.
Und in der hinreißendsten Szene probiert Sandra Hüller eine Sammlung komischer Scherzartikel aus, um für Stimmung bei ihren Mitschauspielern zu sorgen, die es sich längst auf den Sitzkissen bequem gemacht haben, die Frage wälzend, wie man eigentlich Herr im eigenen Haus sein kann oder ob die Erlösung darin steckt, es nicht mehr sein zu müssen.
Von der Psychoanalyse hangelt sich „Gasoline Bill“ zum psychologischen Theater. Dass sich das Selbst nur im Spiel entwickeln kann, wird auf die Kunst selbst übertragen. Die Spieler setzen auf der Bühne das Haus in Bewegung, das sich nun dreht wie eine tibetische Gebetsmühle, die, einmal in Schwung gesetzt, das Beten für einen übernimmt.
Zuvor werden aber die Seiten des Textbuchs dem Souffleur entrissen und flatternd ins Haus geworfen, auf das sich das Stück wie von selbst zu Ende spiele. Was alle Fragen nach Autonomie, Selbstbestimmung und Ich-Werdung nonchalant auffliegen lässt und einen ziemlich beglückt nach Hause schickt.
■ Wieder heute, 19.30 Uhr, Deutsches Theater, Schumannstr. 13a