BARBARA BOLLWAHN über ROTKÄPPCHEN
: Ein Krenz bleibt ein Krenz

Der Nachtzug von Basel nach Berlin ist eine Sensation. Wo sonst spendiert die Vergangenheit Gratis-Wein?

Reisen bildet. Blöd, dass die Bewegungsfreiheit im Osten so eingeschränkt war. Aber der Begriff der allseits gebildeten sozialistischen Persönlichkeit bezog sich ja weniger aufs Reisen, sondern mehr aufs Bleiben. Mit jeder Reise hole ich nun nach, was mir verwehrt wurde.

So war es auch, als ich neulich mit dem Nachtzug von Basel nach Berlin fuhr. Für diese Züge allein hat es sich gelohnt, damals auf die Straße zu gehen. Ich meine nicht den Sitzkomfort, sondern die Nachtbar mit dem dunkelblau-goldenen Sternenhimmel. Die ist so lange geöffnet, wie das Personal lustig ist, und nach wie vor darf dort geraucht werden. Keine Frage, dass der Laden immer gerammelt voll ist.

Von der dritten Reihe aus versuchte ich, die Aufmerksamkeit des Barmannes auf mich zu ziehen. Doch es war unmöglich. Deshalb bat ich einen Mann mit weißem Rollkragenpullover, der am nächsten zur Quelle saß, doch so nett zu sein und meine Bestellung aufzugeben. Er war so nett. Als ich ihm das Geld geben wollte, winkte er ab: „Das übernehme ich.“ Dann eben nicht, dachte ich. So eine kleine Flasche Weißwein verpflichtet zu nichts. Dachte ich.

Ich hatte zehn Schweizer Franken gespart, aber der Wein kam mich trotzdem teuer zu stehen. „Ich bin der Carsten“, begann mein Gönner das Gespräch und streckte mir die rechte Hand entgegen. Nach einem festen Händedruck und einigen Nachfragen wusste ich schon allerhand über ihn: dass er in Zürich bei einem Marktführer der Unternehmenskommunikation tätig ist, global, also grenzenlos. Dass er aus Ostberlin stammt, zu Wendezeiten dort Abitur gemacht, später Jura studiert und als Boulevardjournalist für so illustre Blätter wie Tango und Super-Illu geschrieben hat. Und dass er mittlerweile und „Gott sei Dank, drei Kreuze“, geschieden ist und mit seiner kleinen Tochter einige Tage auf die Ostseehalbinsel Darß fahren will.

Schnell war die erste Flasche geleert und mein persönlicher Zugbegleiter bestellte Nachschub. Ich wollte wissen, ob mein Gefühl stimmt, dass er aus einer ehemaligen Funktionärsfamilie stammt, und fragte ihn ganz unverblümt, wie es meine Art ist. Er antwortete ebenso unverblümt. „Egon Krenz ist mein Vater.“ Ich nahm einen großen Schluck. „Ach nee“, waren die ersten Worte, die mir einfielen. Dann erzählte ich ihm, dass ich seinen Vater im Herbst 1989 durch die Straßen von Leipzig getragen habe. Irritiert schaute er mich an. Ich klärte ihn auf, dass ich für eine Montagsdemonstration ein Plakat gebastelt hatte, auf dem stand: „Wir lassen uns nicht einKrenzen“. Da war es an ihm, „ach nee“ zu sagen. Die Weichen waren gestellt. Wir wussten, woran wir waren. Er, sieben Jahre jünger als ich, identifizierte sich mit dem, was ich abgelehnt hatte.

Carsten Krenz erzählte, dass er noch 1989, da wurde er 18, einen Aufnahmeantrag für die Partei gestellt hatte. Und als Jurist sagte er über die Verurteilung seines Vaters wegen mehrfachen Totschlags an DDR-Flüchtlingen an der Mauer, dass man ihn höchstens wegen Landesverrat hätte verurteilen dürfen. Weil er auf der legendären Pressekonferenz im November 89 die Öffnung der Grenze bekannt gegeben hatte. Ich nahm einen großen Schluck und lachte. Was soll man darauf auch sagen.

Ich weiß nicht mehr, wie viele Flaschen wir geleert haben. So gegen zwei Uhr schloss die Bar und wir schwankten hinaus. Als ich mich am nächsten Morgen verschlafen auf die Suche nach dem Waschraum machte, stand Carsten Krenz kurz vor dem Hauptbahnhof putzmunter mit seinem Gepäck im Gang. Ich war so verdattert, dass ich in die falsche Richtung lief. „Da geht’s lang“, sagte er.

Ich empfand das als Schmach. Ich dachte, die Zeiten seien ein für alle Mal vorbei, dass mir jemand sagt, wo es langgeht.

Diese Reise im Nachtzug hat mir noch andere Erkenntnisse gebracht. Erstens: Ich tat richtig daran, mich nicht einKrenzen zu lassen. Zweitens: Carsten Krenz ist mindestens genauso trinkfest wie ich. Drittens: Der Apfel fällt wirklich nicht weit vom Stamm. Viertens: Eine Reise nach Hause ist immer auch eine Reise in die Vergangenheit.

Fotohinweis: BARBARA BOLLWAHN ROTKÄPPCHEN Fragen zu Krenz? kolumne@taz.de Morgen: Barbara Dribbusch GERÜCHTE