: So verachtet wie beschworen – die vertrackte Mitte
SACHBUCH Weshalb die Mitte wichtiger ist, als der Marxismus glaubte, und dennoch nur an sich selbst leidet, erklärt Herfried Münkler
Wohl keine andere europäische Gesellschaft war so auf die Mitte fixiert wie die Bundesrepublik. Nur in der Mitte konnte man Wahlen gewinnen, nur wer die Mittelschicht überzeugte, konnte regieren. Diese Fixierung auf die Mitte war natürlich das Ergebnis der NS-Katastrophe. Nie wieder Extreme, das war Konsens der Bonner Republik. Politik sollte in der Bundesrepublik so weit wie möglich entfernt sein von dem Dezisionismus und der kalten Verachtung des Kompromisses, mit der Denker wie Carl Schmitt die Nazis geistig begleitet hatten. „Die soziopolitische Mitte in Deutschland“, schreibt Herfried Münkler in dem Essay „Mitte und Maß“, „lehnte Entscheidung nach dem Typ des Entweder-oder ab und bevorzugte das Sowohl-als-auch.“
Dass fast alle Parteien magnetisch in die Mitte streben, war aber auch Reflex einer epochalen sozialen Umwälzung. Die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts glich einer Pyramide, mit riesiger Unterschicht, kleiner Mittelschicht und verschwindender Elite. Die Bundesrepublik ließ sich als Zwiebel darstellen, in der zwei Drittel zur Mittelschicht gehörten. Wo die Unterschichten auf sozialen Aufstieg hoffen und die Klasseninteressen nicht hart, sondern abgefedert aufeinander treffen, wird die Mitte zwangsläufig zum entscheidenden Ort. So kann man das Scheitern des Marxismus als krasse Fehleinschätzung der Mittelschicht lesen. Marx hielt „die neue Kleinbürgerschaft“ für ein flüchtiges Phänomen, eine Übergangsklasse, die bald im unausweichlichen Kampf zwischen Proletariat und Kapital zerrieben würde. Dass ausgerechnet diese zum Untergang verdammte „neue Kleinbürgerschaft“ zur prägenden Klasse in den kapitalistischen Zentren des 20. Jahrhunderts wurde, stellte die marxistische Fortschrittsthese auf den Kopf.
Münkler umkreist das Thema in vier versierten, ideengeschichtlichen Essays. Er beleuchtet die Anfänge bei Aristoteles, der noch immer der einflussreichste Theoretiker der Mitte ist. Nur die soziale Mitte, die zwischen Arm und Reich steht, so Artistoteles, sorgt für stabile Verhältnisse. Nur das richtige Maß, jenseits der Extreme, garantiert in der aristotelischen Ethik ein gutes Leben.
So eilt Münkler im Sauseschritt durch die Geistesgeschichte, widmet sich dem großen Mitte-Verächter Nietzsche ebenso wie Schopenhauer, den er als Prototyp eines deutschen Intellektuellen identifiziert, der zur Mittelschicht gehört, diese aber abgrundtief verachtet. So wird deutlich, dass die Mitte etwas Vertracktes hat. Sie leidet an sich selbst. Und sie ist dialektisch stets an ihr Gegenteil, das Extreme, gekoppelt. Ohne Peripherie keine Mitte. Oder wie es Münkler präzise formuliert: „Wo alles Mitte ist, ist es mit der Mitte schnell vorbei.“ Das ist flott und kundig geschrieben, doch wohin der Autor eigentlich will, gerät manchmal aus dem Blick.
Dabei liegt auf der Hand, warum Mitte derzeit ein Thema ist. Seit 1990, schreibt Münkler, sind die „Wohlstandsgewinne ausschließlich im oberen oder obersten Einkommensbereich eingestrichen worden“. Damit zerfalle die Mitte, eigentlich Hort der Stabilität, in Gewinner und Verlierer. Die obere Mittelschicht will den Sozialstaat nicht mehr finanzieren, die untere leidet unter Abstiegsängsten.
All das kommt nur randständig vor. Ist die Auflösung der Mittelschicht eine nötige Folge des global entfesselten Kapitalismus? Kann man diesen Trend stoppen? Ein paar präzise Thesen dazu hätten diesem gescheiten Essay gutgetan. STEFAN REINECKE
■ Herfried Münkler: „Mitte und Maß“. Rowohlt Berlin, Berlin 2010, 302 Seiten, 19,95 Euro