: Gymnasialvertreter empören sich über neuen G8-Vorschlag
ABITURSTREIT Professorinnen und Politiker fordern, das G8-Abitur zu erhalten. Um Stress abzubauen, solle die Stundenzahl verkürzt werden. Gymnasiallobbyisten wittern eine Verschwörung
BERLIN taz | Unmittelbar vor der am Donnerstag beginnenden Konferenz der Kultusminister (KMK) befeuert ein Aufruf verschiedener Bildungsexperten die Debatte um die Dauer der Gymnasialzeit bis zum Abitur neu. ProfessorInnen, SchulleiterInnen, PolitikerInnen und GewerkschaftsvertreterInnen veröffentlichten am Montag ein Schreiben an die KMK, in dem sie sich für Beibehaltung des achtjährigen Gymnasiums (G8) starkmachen. Um Gymnasiasten zu entlasten, schlagen sie vor, die von der KMK vorgeschriebenen 265 Wochenstunden bis zum Abitur auf 260 Stunden zu reduzieren.
Heinz-Peter Meidinger, Bundesvorsitzender des Deutschen Philologenverbandes, zeigt sich über den Vorschlag entsetzt. „Nach der Einführung des G8, die sowieso schon zur Stundenverkürzung geführt hat, jetzt erneut zu streichen, das ist eine Kapitulation“, sagte Meidinger der taz. „Diejenigen, die so etwas sagen, haben das Gymnasium schon aufgegeben.“ Die Lösung des Problems könne nicht sein, dass auch der Nachmittagsunterricht an den G8-Schulen noch gestrichen werde. „Der Konsens unter allen Parteien ist die Ganztagsschule. Davon jetzt abzurücken, ist ein starkes Stück“, findet Meidinger.
Auch Mareile Kirsch von der Hamburger Elterninitative „G9 – Jetzt“ pflichtet dem Philologenvorsitzenden bei. „Dieser Vorschlag ist der Weg zur Abschaffung des Gymnasiums“, meint sie. Der Aufruf der Bildungsforscher und -politiker verfehle das Thema. „Den Eltern geht es um etwas ganz anderes, nämlich um ein neues Erziehungsmodell.“ Im Unterricht müsse viel mehr Raum für Querdenken und Persönlichkeitsentwicklung sein, was durch eine erneute Pflichtstundenzahlverkürzung konterkariert würde.
In etlichen Bundesländern spitzt sich der Streit um die Wiedereinführung des G9-Abiturs derzeit zu. Der aktuelle Vorschlag zur Beibehaltung des G8 wurde unter anderem vom Pisa-Forscher Jürgen Baumert, dem ehemaligen Berliner Schulsenator Jürgen Zöllner (SPD) und der Leiterin des Instituts für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen Petra Stanat unterzeichnet. Er kommt Elterninitiativen entgegen, die sich über die zunehmenden schulischen Verpflichtungen ihrer Kinder am Nachmittag empören.
Doch Kirsch warnt: „Die Folge einer Reduzierung der Stundenzahl würde eine Amerikanisierung des Schulsystems sein.“ Die Hochschulreife würden Schüler nicht mehr am Gymnasium, sondern in einem Vorbereitungsjahr an den Universitäten erlangen. „Das kostet enormes Geld“, befürchtet Kirsch.
Mareile Kirsch wittert gar eine Verschwörung: „Hier wendet sich ein mächtiges Bündnis gegen die Eltern, gegen eine Bürgerbewegung.“ Das Hauptmotiv der G8-Befürworter sei ein Schutzmechanismus für integrative Schulformen wie die Gemeinschaftsschule, die das Abitur nach Klasse 13 anbieten und damit derzeit einen Wettbewerbsvorteil gegenüber den achtjährigen Gymnasien hätten.
Der Begriff „Gemeinschaftsschule“ taucht im Aufruf jedoch nicht auf. HENNING RASCHE