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Archiv-Artikel

Die Zukunft lebt im Slum, bald

Der globale Slum und die europäische Stadt: Bereits heute leben mehr Menschen in der Stadt als auf dem Land. Mike Davis’ aktuelles Buch „Planet of Slums“ beschreibt diese Urbanisierung als Revolution, vergleichbar mit der Industrialisierung

Auch im Slum wohnen heißt zahlen: eine Nutzungsgebühr für das Haus oder Schmiergelder

VON JOCHEN BECKER

„Im Grunde haben die Megastädte mit bald 30 Millionen Einwohnern schon heute mehr Verantwortung und Entscheidungskompetenz als mancher Nationalstaat“, sagt Armand Gruentuch, gemeinsam mit Almut Ernst als Generalkommissar für den Deutschen Pavillon bei der Architekturbiennale in Venedig verantwortlich. Vorgestellt wird dort allerdings das Badeschiff auf der Spree oder eine Dachaufstockung in der Kreisstadt Merzig (31.000 EinwohnerInnen).

Es ginge auch anders: Zur Biennale 2004 hatte Belgien den Anthropologen Filip de Boeck beauftragt, gemeinsam mit der Fotografin Marie-Françoise Plissart das Projekt „Kinshasa. Tales from the Invisible City“ zu entwickeln. Die heutige kongolesische Hauptstadt wurde 1881 als Handelsposten Léopoldville gegründet, benannt nach ihrem Besitzer, dem belgischen König Léopold II. Die seit 1966 postkoloniale Metropole Kinshasa wurde in Venedig durch Gottesdienste der verschiedenen Pfingstkirchen, Verkaufsbuden und Porträts des städtischen Alltags vorgestellt. Der Pavillon erhielt den Preis für die beste Konzeption; hier wurde die übliche eurozentrische Leistungsschau-Routine durchkreuzt und die Kolonialgeschichte im Rahmen eines Nationalpavillons dingfest gemacht.

Die vielgepriesene europäische Stadt ist nicht nur in Sienna oder Brüssel, sondern auch in Tripolis, Algier und Kinshasa zu finden – als kolonialer Kern, der sich vom Siedlungsdruck der Mehrheitsbevölkerung abzugrenzen sucht. Die Slums wurden wiederholt wie vergebens mit Bulldozern niedergewalzt. Jenseits der segregierten Stadtkerne bildeten sich geradezu zwangsläufig informelle Siedlungen. Hier haben die unbefestigten Straßen keine Laternen, und Trinkwasser ist in Kinshasa am Kongo-Fluss nunmehr so rar wie in der Sahara. Das Leben in der Scheiße ist wörtlich zu nehmen, denn sanitäre Anlagen fehlen. Während die Kolonialherren ihre Quartiere mit Kanälen versorgten, machte das Rohrsystem vor den Vierteln der Armen Halt.

Mit der Entkolonialisierung um 1960 wurden die Barrieren der kolonialen Apartheid niedergerissen. So gesehen waren die Öffnung der europäisch geprägten Innenstädte mit ihren Bürgersteigen, die Platz für Kioske und Auslagen boten, für die Armutsbevölkerung ein Akt der Befreiung. Doch bald schon etablierten sich alte Muster: Während heute auf einem Quadratkilometer in Nairobis grünem Vorort Karen weniger als 360 Menschen leben, drängen sich in Teilen des Vorortes Kibera mehr als 80.000 SlumbewohnerInnen. Der US-Autor Mike Davis spricht in seiner ab Januar auch auf Deutsch erscheinenden Publikation „Planet of Slums“ von einer postkolonialen Reproduktion der segregierten Kolonialstädte. Diese Spaltung ist nicht vorgegeben, sondern Effekt eines „endlosen Sozialkrieges“, befestigt durch Mauern, Straßensperren, Pufferzonen und Checkpoints.

Als „Wasserscheide der Menschheitsgeschichte“, vergleichbar der industriellen Revolution, bezeichnet der Autor den in diesem Jahr eingetretenen Moment, zu dem erstmals mehr Menschen in Städten als auf dem Land leben. Noch um 1800 lebten zwei Prozent der Erdbevölkerung in größeren Siedlungen und Städten. Heute zählt man 400 Millionenstädte und bis 2015 wenigstens 150 mehr. Die Metropolen des globalen Südens tragen die Last, wenn 2050 weltweit 10 Milliarden Menschen auf der Erde leben und 95 Prozent des städtischen Wachstum auf der Südhalbkugel verzeichnet werden. Gut die Hälfte der Stadtbewohner werden in einer der 250.000 Elendssiedlungen wohnen, die von einigen hundert bis zu 4 Millionen Menschen in den Megaslums versammeln. Äthiopien, Tschad und Afghanistan führen mit über 98 Prozent Slumsiedlungen in urbanisierten Gegenden die Statistiken an. Doch die raschest wachsenden Slums befinden sich laut ‚Planet of Slums‘ in der Russischen Föderation.

Künftig werden nicht die Top Ten der Megacities das städtische Wachstum aufnehmen, sondern bislang weitgehend unbekannte Metropolenregionen der zweiten Reihe. „Die Leute vom Land müssen nicht mehr in die Stadt wandern, vielmehr wandert diese ihnen entgegen“, spitzt Davis die Verschiebung zu. Der Preis für die „Neue Stadt-Ordnung“ wird wachsende Ungerechtigkeit zwischen und innerhalb dieser Agglomerationen sein. Zwei Fünftel der Erwerbstätigen in den sogenannten Entwicklungsländern malocht informell. Die Arbeitskräfte der Welt haben sich seit 1980 verdoppelt, nicht jedoch die Möglichkeiten des regulären Erwerbs. Für Mike Davis ist diese schnell weiter wachsende Milliarde von Menschen die neue Arbeiterklasse. Aufstieg ist hier kaum möglich; stattdessen wird die Armut rechtlos geteilt. Abgeschottet von der Solidarität des dörflichen Lebens und getrennt vom kulturellen und politischen Leben der Stadt, wirken die Slumbewohner isolierter den je.

Das empirische Rückgrad für den Weltenritt von „Planet of Slums“ bildet der UN-Habitat-Report „The Challenge of Slums“ von 2003, nach Davis „die erste wirkliche globale Untersuchung städtischer Armut“. Die Publikation versammelt erstmalig die Einkommensverhältnisse von 90 Prozent der Weltbevölkerung und zeigt auf, dass nicht alle Armen in Slums und in Slums nicht nur die Armen leben. Doch die Schnittmenge ist sehr groß. Nicht mehr Glas und Stahl wird das Bild von Stadt prägen, sondern Plastikplanen, Holzlatten, rohe Ziegel und Wellblech. Slums werden hier definiert als überbevölkerte, ärmliche oder informelle Behausungen, mit unzureichendem Zugang zu frischem und Abwasser sowie ausgeprägter Unsicherheit der Lebensverhältnisse. Schwieriger zu umreißen ist die „soziale Dimension“.

Der Autor sieht den Grund für Landflucht und neue städtische Armut vor allem in der Strukturanpassungspolitik (SAP) des Internationalen Währungsfonds begründet. Nicht mehr die Abschaffung der Slums, sondern deren Verbesserung wurde zum neuen Programm. Statt sozialdemokratischer Beglückung von oben durch den Wohlfahrtsstaat – ein Privileg des globalen Norden – sollten nun die BewohnerInnen ermächtig werden, selbst ihre Situation zu verbessern. Doch die „Hilfe zur Selbsthilfe“ bleibt ein Eingeständnis des Scheiterns. Die zehntausendfache „NGO-Revolution“ der großen Nichtregierungsorganisationen wandelte sich in Projekt-Abwicklung um und etablierte einen neuen Klientelismus.

Slums sind auf Müll und mit Müll gebaut. Sie bilden sich entlang von Verkehrsschneisen und Abfallhalden, auf Friedhöfen, Sümpfen, von Ungeziefer befallenen Arealen oder kontaminierten Industriebrachen, auf Fußgängerwegen oder Dächern anderer Häuser, in Parks oder an errosionsgefährdeten Hängen – Orten also, die eigentlich nicht vermietbar sind. Im Slum zu wohnen heißt jedoch nicht, kostenfrei zu wohnen: Meist muss eine Nutzungsgebühr gezahlt oder es müssen Polizisten und Politiker geschmiert werden. Das Besetzen von Land kommt letztlich nicht billiger als der Landkauf.

Davis macht sich keine Hoffnungen mehr auf Aneignungspraxen von unten: „Der Besetzer ist weiterhin das große menschliche Symbol der Stadt in der Dritten Welt, ob nun als Opfer oder Held. Doch … das goldene Zeitalter der Besetzungen – der freien oder günstige Belegung von peripher gelegenem Land – ist seit 1990 definitiv vorbei.“ Einziges Aufstiegsmodell ist die Ausbeutung der noch Ärmeren durch die höchst profitable Untervermietung von Elendssiedlungen durch die „slum lords“. Das Buch lässt den Schluss zu, dass Slums arbeitsteilig errichtete Mieter-Städte darstellen.

Die globale Geschichte der informellen Stadtentwicklung steht noch aus. Mike Davis versucht in „Planet of Slums“, zwischen Statistikdaten und Kritik Schneisen zu schlagen. So schaukelt sich das Buch entlang von Statistiken empor, und springt zugleich munter zwischen den Kontinenten umher. Dies ergibt zwar eine globale Perspektive der Faktenlage, doch: War er denn dort überall? Wie lässt sich das Material vergleichen?

Vor allem den Krisen widmet Davis seine skandalisierende Aufmerksamkeit: Hier ist’s schlimm, dort ganz übel, aber wo anders noch katastrophaler. Dabei malt er nur zu gerne ein „danteskes“ Szenario aus und zementiert so den Opferdiskurs. Man verspürt in Mikes Davis’ gewichtiger Abrechnung kaum soziale Nähe. Wohl deshalb kündigt Mike Davis als nächstes Buchprojekt „Governments of the Poor“ an, um dort über den Widerstand der Elendsbevölkerung gegen den globalen Kapitalismus zu schreiben.

Demgegenüber bewegen sich die Untersuchungen zu Brazzaville und Kinshasa, welche die Jan-van-Eyck-Akademie unter dem Titel „Brakin“ publizierte (siehe taz vom 14. 11. 2006), innerhalb des städtischen Terrains und versammeln staunenswerte Lebensmodelle aus dem Alltag. Die ForscherInnen erkunden Überlebenspraktiken im Handykarten-Verkauf oder stellen fest, dass die Ummauerung der von Europäern entworfenen Häuser ein Prozess der Entkolonialisierung darstellt, in dem das direkte Umfeld als erweiterte Lebensfläche angeeignet wird. Es ist also gar nicht so erstaunlich, dass die treibende Kraft der bolivarischen Revolution den Barrios von Caracas entstammt, denn oft sind die Slums besser organisiert als der Rest der Megacities.

Jochen Becker ist gemeinsam mit Stephan Lanz Herausgeber der Buchreihe metroZones zu Stadtentwicklungen „Jenseits der Civitas“ im Globalen Süden