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Archiv-Artikel

Spucken und Schweigen

Der Tod des chilenischen Ex-Diktators Augusto Pinochet hat das Land in Aufruhr gebracht. Wie bei allen Diktatoren fangen mit dem Begräbnis die Probleme erst an: Wie soll die Zeremonie aussehen?

VON MARTIN REICHERT

Menschen, die ständig damit beschäftigt sind, andere Menschen ins Grab zu bringen, kommen oft selbst nicht zum Sterben: Der chilenische Militärdiktator Pinochet hat es auch erst im 91. Lebensjahr geschafft – während seiner Herrschaft (1973 bis 1990) wurden nach Schätzungen mindestens 3.000 Menschen ermordet und unzählige BürgerInnen gefoltert.

So wie Ex-HVA-Chef Mischa Wolf es geschafft hat, am 9. November zu verscheiden, klappte es bei dem arthritischen, an Diabetes leidenden und von Schlaganfällen und leichter Demenz gezeichneten Pinochet ausgerechnet am Tag der Menschenrechte. At last. Gutes Timing?

Wahrscheinlich wusste Pinochet nicht einmal, dass es diesen Tag überhaupt gibt. Sein Begräbnis wurde jedoch zur einer wahrhaftigen Trauerfeier: Die einen trauerten, die anderen feierten. Während jugendliche Anhänger des Diktators am Sarg den rechten Arm zum Hitlergruß hoben und draußen gegen Kommunisten und – absurd – Schwule hetzten, liefen Pinochet-Gegner über die Straßen Santiagos und riefen den Karneval aus, weil der Tyrann tot sei und Allende lebe. Die Anhänger Pinochets behaupteten indes mit Transparenten dessen Unsterblichkeit.

Vom tatsächlichen Ableben des Diktators überzeugten sich derweil über 60.000 ChilenInnen, die gestern an seinem in einer Offiziersschule aufgebahrten Leichnam vorbeidefilierten. Der Enkel eines im argentinischen Exil ermordeten Regimegegners nutzte die Gelegenheit, auf den Sarg des hinter einer Glasscheibe verborgenen Verstorbenen zu spucken. Eine ohnmächtige Geste, denn einer möglichen Verurteilung war der zuletzt aufgrund einer Anklage wegen Ermordung zweier Allende-Leibwächter unter Hausarrest gestellte greise Exgeneral mittels Herzinfarkt entronnen. Sein schändungsgefährdeter Leichnam – für die Himmelfahrt seiner Seele betet der Erzbischof von Santiago – wurde vorsichtshalber kremiert und auf sicheres, privates Terrain verbracht.

Stirbt ein Diktator eines natürlichen oder gewaltsamen Todes, geht es meistens hoch her – auch wenn an dem ebenfalls in Chile verstorbenen aufgebahrten Leichnam Erich Honeckers nur die mit dramatischem Kopftuch gewandete Margot Honecker wachte. In ihrem Privathaus soll sich nun auch die Urne des Ex-DDR-Staatsratsvorsitzenden befinden – weder anspucken noch Kranz abwerfen möglich.

Je libidinöser und extremer aufgeladen das Verhältnis der (Ex-)Untertanen zum (Ex-)Führer, desto krasser der Umgang mit den Leichnamen: Benito Mussolini wurde zunächst von kommunistischen Widerstandskämpfern erschossen, danach wurde er an einer Tankstelle am Piazalle Loreto in Mailand kopfüber und halbnackt aufgehängt und zur Schau gestellt. Kurze Zeit später wurde Mussolini zwar beerdigt, sein Leichnam wurde jedoch von Faschisten entführt und erst zwölf Jahre später in seiner Heimatstadt Predappio beigesetzt. Nach dem Tode Pol Pots in Kambodscha (1998) wollte man gar seinen Leichnam an einen Gerichtsstuhl binden, um ihm doch noch den Prozess zu machen. Und was war es für ein Gewese um die Beerdigung des in Haft und bar jeglicher Verurteilung gestorbenen Slobodan Milošević – des ersten amtierenden Staatspräsidenten, der für seine Kriegsverbrechen von einem internationalen Gerichtshof angeklagt wurde. Ein Staatsbegräbnis in Belgrad wurde von dem mittlerweile ermordeten Zoran Djindjić verhindert – und zur Beisetzung im kleinen Heimatort Pozarevac reiste extra Peter Handke an, um eine Rede zu halten. Die Milošević-Gegner verteilten stattdessen frohlockend Blumen.

Auch im Jahr 2006 geht es noch immer um den Umgang mit dem symbolischen Körper des Königs – mag der tatsächliche auch noch so mausetot sein. Für Augusto Pinochet hatte sich in den letzten Jahren eigentlich niemand mehr so recht interessieren wollen, doch sein Ableben und seine Beisetzung versetzt eine ganze Nation in Aufruhr.

Man kennt das von Beerdigungen im Kreise der Familie: Auch nach Jahren kalten Schweigens kann es beim Leichenschmaus zu unberechenbaren und heißen Gefühlsausbrüchen kommen.

Entzündet sich der Funke des Streits bei der Familienfeier zumeist um die Anteile am erhofften Verkaufserlös von Großmutters Häuschen, geht es bei der Beerdigung eines Diktators um dessen politisches Erbe: Keine Leiche, kein Totenkult. Kein Staatsbegräbnis, kein Weiterleben der Tradition. Nur gegen die Behauptung der Unsterblichkeit ist kein Kraut gewachsen.