: Banale Objekte einer obskuren Begierde
Objektophilie ist eine sehr seltene Sonderform der Sexualität. Wer sie auslebt, liebt Dinge, fühlt sich erotisch zu ihnen hingezogen und pflegt bisweilen regelrechte Beziehungen
VON DANIEL MÜLLER
John und Dave wiegen zusammen genau neun Kilogramm. Sie sind aus Aluminium und je etwa 40 Zentimeter hoch, John ist mit seiner langen dünnen Nadel auf dem Kopf noch ein paar Zentimeter größer. Irgendwo im Osten von Berlin stehen sie auf einem bunten Regal neben pappenen Nachbauten der imposantesten Wolkenkratzer der Welt: des Empire State Building, des 101 in Taipeh und der malaysischen Petronas-Türme. John und Dave sind Modelle des Nord- und Südturms des 2001 zerstörten World Trade Centers in New York – und das Objekt der Begierde von Sandy. Sandy ist 24 und objektophil. Sie hat ihren Liebsten Namen gegeben.
Objektophilie oder Objektsexualismus ist eine weitestgehend unerforschte Sonderform der Sexualität. Ähnlich dem Animismus, einer schriftlosen Religionsform, die zu den ältesten Religionen überhaupt zählt, geht sie davon aus, dass nicht nur Menschen, sondern auch Tieren, Pflanzen und eben Gegenständen eine Seele innewohnt. Objektophile lieben Dinge, fühlen sich erotisch zu ihnen hingezogen und pflegen regelrechte Beziehungen zu ihnen. Sexuelle Beziehungen zu Menschen führen sie in der Regel nicht. Sandy hat sich in das World Trade Center verliebt – wann und wie genau das passierte, weiß sie nicht mehr. „Aber ich habe schon früh in meiner Jugend gemerkt, dass ich mich auch körperlich zu Dingen hingezogen fühle“. Schon als kleines Kind fand sie das WTC aufregend, als Jugendliche dachte sie sich: „Da kommst du eh nie dran!“
Was andere Mädchen in ihrem Alter über Leonardo DiCaprio oder Robbie Williams dachten, das empfand Sandy gegenüber Objekten. „Irgendwann“, sagt sie, „habe ich mich gefragt: Wie könnte man sich näher kommen? Da hab ich gemerkt, dass ich ein bisschen anders bin. Das hat mich schon erschreckt.“ Deshalb konnte sie es auch niemandem erzählen, nicht mal ihrer Großmutter, die sich seit ihrer Kindheit schon um sie kümmert. „Ich hatte einfach Angst, dass die Leute denken, ich sei behandlungsbedürftig.“ Also versuchte sie erst mal alles, um ihre Gefühle zu verdrängen, was nicht immer ganz leicht war. Insbesondere am 11. September 2001. Zunächst sei sie schockiert gewesen. Als das Geschehen zu ihr durchdrang, war sie konsterniert. „Ich hab ein paar Tage blau gemacht, ich konnte einfach nicht zur Schule gehen.“
Mittlerweile hat die 24-Jährige ihren Frieden mit ihrer Sexualität gemacht. Anfang 2004, nachdem sie im Internet auf Gleichgesinnte gestoßen war, ließ sie ihre Gefühle zu und öffnete sich schließlich auch ihrer Großmutter. „Ich hatte für mich einfach beschlossen: So fühl ich, so bin ich. Jetzt lasse ich es zu, ich habe mich lange genug mit unterdrückten Gefühlen gequält.“
Sandy pflegt mit John und Dave eine ernsthafte Beziehung. Sie führt, zumindest in Gedanken, Gespräche mit ihnen, erzählt Alltagsprobleme, hört gemeinsam mit ihnen romantische Musik, streichelt sie und führt die Türme auch an Stellen, die sie sexuell erregen. Sandy geht davon aus, dass Gegenstände etwas wahrnehmen können. „Da ist ein bestimmtes Gefühl da, das mir sagt: vielleicht bekommen sie ja mit, was ich fühle.“ Sandys Zimmer sieht aus wie ein Mini-Wolkenkratzermuseum. Neben den Modellen hängen zahlreiche Fotos und Poster von impressiven Gebäuden an den weißen Wänden, unter ihrem Bett liegen selbst zusammengebastelte Riesenpuzzle mit der Skyline von New York. Vor ihrer Zimmertür hängt der „Skyscraper 2007“- Kalender, das Konterfei ziert das Luxushotel Burj Al Arab in Dubai. Wenn Sandy sich abends schlafen legt, ist einer der beiden Türme immer dabei – manchmal gehen auch John und Dave gemeinsam mit ihr zu Bett.
Joachim ist 41 und liebt eine alte Dampflok, die in einem Museum irgendwo im Ruhrgebiet steht. Den genauen Ort möchte Joachim nicht nennen – er will nicht riskieren, dass er nicht mehr zu ihr darf. Joachim erzählt, das man Objektsexualismus klar vom Fetischismus abgrenzen muss: „Ich lebe eine emotionale, körperliche, partnerschaftliche Liebe zu Gegenständen. Das ist kein Ersatz für einen Menschen, das ist völlig eigenständig. Man liebt das Objekt für das, was es ist.“
Der 41-Jährige betreibt das Internetportal www.objektophilia.de und hat den Begriff des Objektsexualismus in Deutschland maßgeblich mitentwickelt und -geprägt. Er ist dem englischen Begriff „objectum sexuality“ entlehnt, der von der Schwedin Eija-Riitta Eklöf erfunden wurde, die 1978 die Berliner Mauer heiratete und seitdem den Doppelnamen Eklöf-Berliner Mauer trägt. Sie gilt als erste Objektsexuelle der Moderne. Auf ihren zahlreichen Internetseiten (z. B. www.berlinermauer.se oder www.berlin-wall.org) erklärt die Schwedin ihre inbrünstige Liebe zur „best and sexiest wall ever existed“ und schreibt von ihrer unnachahmlichen Trauer nach dem 9. November 1989.
Joachim ist so etwas wie der Missionar und Aufklärungsvorreiter der deutschen Objektophilen-Szene. Seit über 20 Jahren liebt er Gegenstände. Angefangen hat es mit einer Hammond-Orgel, die er Rosalinda nannte. Über die Sprache der Musik hat er mit ihr kommuniziert und schließlich eine innige Liebesbeziehung geführt. Wie bei zwischenmenschlichen Beziehungen ver- und entlieben sich auch Objektophile. Joachim unterhält ganz alltägliche Beziehungen zu Menschen, nur eben nicht sexuell. Derzeit ist Joachim mit den Schattenseiten der Objektliebe konfrontiert. Er vergleicht die Situation mit der Liebe zu einer verheirateten Frau – er kann sie hin und wieder sehen, wird sie aber nie ganz „besitzen“ können. Er hat sich ein größeres Eisenbahnmodell für zuhause gebaut, welches jedoch etwas eigenständiges darstellt. „Kein Modell ersetzt eine echte Lok mit ihrer Lebendigkeit und ihrem Geruch.“ Auf seiner Homepage steht in großen Lettern: „Ich liebe euch, ihr alten Dampfrösser!“
Joachim und Sandy sind glücklich über ihre Sexualität, als Krankheit oder skurrile Leidenschaft begreifen sie die Objektophilie auf gar keinen Fall. Und so absurd und für manche Menschen sicherlich abnorm Objektliebe auch klingen mag, so bereichernd, Halt gebend und normal ist sie für die etwa 25 Menschen, die sich in Deutschland dazu bekennen – zur vollwertigen emotionalen und körperlichen Beziehungsliebe zu „unbelebten“ Gegenständen.
Wenn man sich auf den einschlägigen Foren umschaut, so begegnen einem oft phallische Symbole als Liebesobjekte: Eisenbahnen, Türme, Großdrehbohrer, Flugzeuge. Einen phallischen Bezug weist Joachim jedoch zurück: „Das ist es garantiert nicht, weil es eben nichts mit Menschlichkeit zu tun hat.“ Vielmehr, so Joachim, sei bei vielen ein Hang zu geometrischen Formen erkennbar. Parallelen, Winkel, Ecken und Flächen sind die Brüste, Hintern, Beine und Bäuche der Objektophilen. Auch alltägliche Partnerschaftsgefühle wie Eifersucht, Nähe oder Wiedersehensfreude sind Bestandteile einer objektbezogenen Liebe. Es ist kein Ersatz für die partnerschaftliche Liebe, die ihnen Menschen und die sie Menschen nicht entgegenbringen können, es ist ein vollwertiges Äquivalent.
Wissenschaftlich ist das Thema bislang kaum erfasst. Es gibt weder eine anerkannte oder gängige Definition, noch gibt es überhaupt seriöse Literatur zum Thema. Der Einzige, der sich im Rahmen seiner Forschung zumindest oberflächlich mit dem Thema beschäftigt hat, ist Professor Volkmar Sigusch. Der so genannte Erfinder der Neosexualitäten und ehemalige Leiter des mittlerweile geschlossenen Instituts für Sexualwissenschaft in Frankfurt am Main bezeichnet Objektophilie als sexuelle „Vorliebe“. Detailliertere Angaben kann Sigusch aber nicht machen, den Objektsexualismus beispielsweise vom Fetischismus abgrenzen, da er noch mit keinem Objektsexuellen gesprochen hat. Geschweige denn einen „psychoanalysiert hätte“, wie er sagt. Was er allerdings auch nicht tun würde, „denn diese Menschen tun etwas, was in dieser Warengesellschaft gang und gäbe ist: tote Dinge emotional, libidinös besetzen. Weil das so ist, gibt es bei uns Menschen, die ihr Auto mehr lieben als ihre Ehefrau.“
Eine reichlich lakonische Einschätzung, die den Kern der Objektophilie nicht trifft, da Sigusch nicht die tief empfundene Liebe berücksichtigt, die ein Objektsexueller zu seinem Gegenstand pflegen kann.
Dass man unter diesem Umstand, ein Auto mehr zu lieben als einen Menschen, leiden kann, zeigt das Beispiel von Maria. Im Gegensatz zu Sandy, Joachim und vielen anderen Objektsexuellen, die im Reinen mit ihrer Sexualität sind und die Objektophilie als solche schätzen und genießen, hat sie ernsthafte Probleme damit. Maria wurde als Kleinkind sexuell missbraucht und führt ihre Liebe zu den Dingen, in ihrem Fall Autos, auf diese Übergriffe zurück. „Ich habe mich von den Menschen gelöst, habe sie verabscheut und habe mich nur noch mit Kraftfahrzeugen beschäftigt.“ Mit 12 Jahren hat sie sich zum ersten Mal verliebt – in den Wagen eines Nachbarn. Sie schaffte sich ihre eigene Welt um die Dinge herum, versuchte mit aller Gewalt, Menschen aus ihrem Leben fernzuhalten, und bekam Angstzustände: „Ich war mehr krank als gesund.“
Irgendwann kaufte sie sich ihren ersten Wagen, den sie unbändig liebte. Doch Maria litt stets ebenso viel an der Liebe, wie sie ihr Halt geben konnte. Nachts konnte sie nicht schlafen – aus Sorge, ihr Auto könnte gestohlen werden, die ständigen Instandsetzungsmaßnahmen an dem 20 Jahre alten Vehikel verschlangen Zeit und Geld. Sie verkaufte den Wagen, um von ihm loszukommen – und kaufte ihn prompt zurück. Vor drei Monaten hat sie einen radikalen Schnitt gemacht und das geliebte Objekt verschrotten lassen. Restlos, abschließend, endgültig. „Ich litt sehr darunter“, sagt sie, „aber jetzt bin ich endlich frei!“ Und zitiert zu ihrer Situation die Bibel: „Wenn deine rechte Hand immer wieder etwas klaut, obwohl du es gar nicht willst, dann hack sie ab.“ Sinnbildlich hat sich Maria ihre rechte Hand abgehackt, sich der „bösen Sucht“, wie sie die Objektophilie nennt, entledigt.