: Jäher Abfall des Interesses
NSU-PROZESS Das „Bündnis gegen Rassismus“ hatte vorgestern zur Diskussion ins Ballhaus Naunynstraße geladen, um Bilanz zu ziehen. Sie ist ernüchternd. Ob Richter, Öffentlichkeit oder Universitäten – keiner will mehr wissen
VON KIRSTEN RIESSELMANN
Es scheint symptomatisch: Der Wikipedia-Eintrag „NSU-Prozess“ kommt im Unterpunkt „Prozessverlauf“ sage und schreibe bis zum fünften Verhandlungstag. Der war am 4. Juni 2013. Der Prozess gegen die immer noch mutmaßlich zu nennende Terroristin Beate Zschäpe und vier weitere Angeklagte aus dem Unterstützerumfeld des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ allerdings ist seitdem weitergegangen. Ein ganzes langes Jahr lang.
Mittlerweile hat es 118 Verhandlungstage gegeben, viele der 600 bestellten Zeugen sind vernommen worden – Wikipedia aber ist Mitte 2013 stehengeblieben. Ein Symptom für die beschämende Aufmerksamkeitskurve für diesen Prozess: zu Beginn ein Riesen-Bohei, Gerangel um die viel zu raren Presseplätze im Saal, küchenpsychologische Interpretationen des Auftretens von Beate Zschäpe noch und nöcher. Und dann: jäher Abfall des öffentlichen Interesses, Berichterstattung nur noch in Meldungslänge, keine Demos vor dem Münchner Gerichtsgebäude, leere Plätze auf der Zuschauertribüne. Als hätte die einstudiert empört auf den rechten Terror reagierende deutsche Mehrheitsgesellschaft mit Prozessbeginn ihr Soll erfüllt. Als gäbe es kein Davor, Dahinter, Daneben, Danach.
Aus Trauer und Wut über diesen Zustand hat das „Bündnis gegen Rassismus“ im Ballhaus Naunynstraße einen Abend organisiert, der sich recht breitbrüstig auf die Fahnen schrieb: „Ein Jahr NSU-Prozess – Eine Bilanz!“ Lisa Washington von der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland redete auf dem Podium recht allgemein über das Racial Profiling der Polizei als Problem, was mit einem konkreten Bilanzieren des Münchner Prozesses nur peripher zu tun hatte – und von den trotz drückender Schwüle in Scharen herbeigeströmten Menschen aus Antifa-Zusammenhängen dennoch mit großem „Preaching to the converted“-Applaus bedacht wurde.
Kutlu Yurtseven, als Vertreter der Initiative „Keupstraße ist überall“ auf dem Podium, schilderte so engagiert wie enragiert die einseitigen, von Vorurteilen nur so strotzenden Ermittlungen der Polizei nach dem NSU-Nagelbombenanschlag auf die vor allem migrantisch geprägte Köln-Mülheimer Keupstraße. Es reichte von „Haben Sie einen Perser gesehen?“ über „Sie wissen doch, wer’s war – jetzt sagen Sie schon!“ bis hin zu einem drohenden Rüffel auf die geäußerte These, dass auch Nazis die Attentäter sein könnten: „Das wollen wir von Ihnen nicht noch einmal hören!“ Yurtseven deutete noch raunend an, dass ein Verfassungsschützer ihm unlängst unter der Hand mitgeteilt habe, man habe „alles gewusst“, aber eine andere politische Direktive gehabt – natürlich eine Schmankerlthese aller Linken, die auch im Ballhaus goutiert wurde. Auch sie allerdings hat mit einer konkreten Bilanz des Verfahrens vor dem Münchner Oberlandesgericht nur indirekt zu tun.
Die einzige Podiumsteilnehmerin, die dazu tatsächlich etwas zu sagen hatte, war die Nebenklage-Anwältin Antonia von der Behrens. Sie beschrieb die „klinische Atmosphäre“, die nach dem anfänglichen Hype mittlerweile im Saal herrsche: Wie jede Form der Gefühlsäußerung vom Vorsitzenden Richter Götzl „mit großer Effektivität aus dem Verfahren herausgehalten wird“. Wie durchgängig Zeugen weder Entsetzen noch Betroffenheit zeigten – entweder weil sie wüssten, dass sie als „normale“ Bio-Deutsche „von diesen Tätern nicht zu Opfern gemacht worden wären“. Oder weil sie als migrantische Zeugen ungeschriebene Regeln befolgten und sich am Riemen rissen, um mit einer stereotyp als impulsiv-südländisch interpretierten Reaktion ihren prekären Status als Opfer nicht zu gefährden.
Von der Behrens berichtete, wie es Richter Götzl stur nur um eine zwar gründliche, aber niemals über den Tellerrand der Anklageschrift hinausschauende Aburteilung der Angeklagten ginge: „‚Wir sollen in diesem Verfahren nicht untersuchen, warum Leute mitgemacht haben.‘ Unterstützerstrukturen werden nicht befragt, der gesamte Komplex der Mitwisserschaft wird nicht aufgeklärt. Genauso darf sich auch der Verfassungsschutz als Deppenverein darstellen, der auf dem rechten Auge blind war – und das sollen wir glauben.“ Von der Behrens hat offenbar längst kapituliert, was das Potenzial des Erkenntnisgewinns im Rahmen des laufenden Prozesses anbelangt. Sie baut darauf, dass sich in zehn, zwanzig Jahren dann verrentete Verfassungsschutzbeamte plötzlich erinnern – und dass irgendwann ein neuer Untersuchungsausschuss eingerichtet und der Prozess neu aufgerollt wird.
Fürs Erste blieb einem ihre Beschreibung des verstörend „netten, freundlichen“ Umgangs mit den Angeklagten im Gerichtssaal: Bei Terrorverfahren sei es eigentlich Standard, die Angeklagten in Handschellen in den Saal zu führen und sie per Glasscheibe von ihren Anwälten zu trennen – beides passiert in München nicht. „Offensichtlich lügende Zeugen müssen in anderen Verfahren sofort mit einer Strafanzeige rechnen“ – auch das sei hier nicht so. Verwunderung äußerte von der Behrens auch darüber, dass es ihres Wissens nach keine wissenschaftliche Begleitung des Verfahrens gibt: Nicht eine juristische Fakultät in Deutschland findet es offenbar beobachtungswürdig oder hält Studierende an, zu einem juristisch derart interessanten Großvorgang zu arbeiten.
Die Bilanz am Ende des Abends fiel, nach Abzug aller manifesthaften Meinungsbekundungen aus dem Publikum, recht ernüchternd aus: Die Öffentlichkeit, also man selbst, müsste dringend zur Prozessbeobachtung nach München fahren. Und die wahre Aufklärungsarbeit, die Licht bringen wird in das NSU-Netzwerk und die ziemlich sicher schuldhafte Verstricktheit der Behörden in den rechten Terror, ist eine Zukunftsmusik von Kubrick’scher Dimension.