: Jede Todsünde ein Kapitel
So etwas wie „On the Road“ auf katholisch: Der musterschülerhafte Selbstfindungstrip „Amerikanisches Fegefeuer“ von John Haskell
„Amerikanisches Fegefeuer“ ist ein melancholischer, traumwandlerischer Selbstfindungstrip durch die Staaten, so eine Art „On the Road“ auf katholisch. Jack heißt denn auch der Ich-Erzähler des Romans. „Wie Kerouac?“, wird er an einer Stelle gefragt, damit auch alles klar ist …
Jack also will mit seiner Frau Anne deren Familie besuchen, aber an der Tankstelle passiert etwas Schreckliches. Während er Süßigkeiten kaufen geht, verschwindet Anne plötzlich mit dem Wagen. Er entdeckt unter ihren Sachen eine mit Streckenmarkierungen versehene Straßenkarte und macht sich auf die Suche nach ihr, von New York nach San Diego. Schließlich findet er sie tatsächlich, aber auf dem einsamen Weg dorthin muss er sich das Unvermeidliche, eine Zeitlang eisern Verdrängte eingestehen: Es hat einen Unfall gegeben an jener Tankstelle, bei dem nicht nur Anne ums Leben gekommen ist, sondern auch er selbst. Seine Leidenszeit auf Erden ist das Purgatorium, von dem der Titel kündet. Jack muss sich erst mal von allen sieben Todsünden (Hochmut, Zorn, Neid etc.) – in exakt sieben Kapiteln! – reinigen, um in den Himmel vorgelassen zu werden.
Die Struktur des Romans ist etwas statisch und deshalb vorhersehbar. Schon beim zweiten Kapitel („Ira“) hat man’s begriffen und beobachtet den Autor dabei, wie er es hinzirkelt, damit auch ordentlich Zorn ins Spiel kommt. Zudem ist Jack ein echter Schwätzer, der nichts beschreiben kann, ohne gleich einen wahrnehmungs- bzw. existenzphilosophischen Exkurs anzuhängen. Dieses skeptisch-verwirrte, alles hinterfragende Dampf- und Dauer-Räsonnement legt sich wie ein Schleier vor die Romanrealität und entrückt sie so. Es wirkt wie eine Art schwacher V-Effekt, der die Wahrhaftigkeit des Erzählten immer etwas in Frage stellt – oder vielmehr das Erzählte im Prozess der Imagination einzufangen versucht.
Das ist ästhetisch nur konsequent, um Jacks wachtraumartigen Schwebezustand zwischen dem Diesseits und dem Jenseits abzubilden – seine Geisterexistenz sozusagen –, macht die Lektüre aber nicht immer zum Vergnügen: „Ich spritze Sauce aus einer Plastikflasche in die Suppe, doch nicht die Suppe ist das Problem, sondern ich, oder etwas, das mir fehlt, und ich versuche mir ins Gedächtnis zu rufen, wie Suppe riecht und wie köstlich dieser Geruch ist, und ich stelle mir vor, dass sie vielleicht einen ganz bestimmten Geschmack hat. Ich probiere die Suppe, hoffe, dass ich etwas schmecke, aber der Geschmack existiert nur in meiner Phantasie. Ich weiß, dass es meine Phantasie ist, aber sogar meine Phantasie ist undeutlich, wie ein Radio mit schlechtem Empfang. Alles scheint nur zu existieren, solange ich es existieren lasse, und das tue ich.“
Ja, und das hat man eben auch bald heraus – dass es sich hier nicht zuletzt um eine Großparabel auf den dichterischen Prozess handelt, dass dieser Roman also beflissen seine eigene Entstehung mitreflektiert. Diese offensichtliche, diese musterschülerhafte Ambitioniertheit, sozusagen mit gehobenem Zeigefinger, stört dann doch ein wenig. So ist das Buch nicht das große Kunstwerk geworden, das es doch so gerne sein will. Eine beeindruckende Etüde ist es aber allemal. FRANK SCHÄFER
John Haskell: „Amerikanisches Fegefeuer“. Aus dem Amerikanischen von Volker Oldenburg. Tropen Verlag, Berlin 2006, 263 S., 19,80 Euro