: Paradoxes Spiel im Hirn
Gerade Menschen, die stark nach Gerechtigkeit streben, verhalten sich häufig besonders unfair. Warum das so ist, sagt eine neue psychologische Studie der Martin-Luther-Universität in Halle
VON BARBARA DRIBBUSCH
Nehmen Sie es mal als Weihnachtsfrage: Angenommen, Sie sind besonders gerechtigkeitsbewusst. Bedeutet dies, dass Sie sich auch edler verhalten als die meisten Menschen? Dass Sie weniger Ressentiments verbreiten, weniger auf Minderheiten herumhacken als andere? Keineswegs muss das so sein. Im Gegenteil: Gerade Menschen, denen Gerechtigkeit besonders wichtig ist, neigen zu unfairen Interpretationen der Wirklichkeit. Sagt eine neue Studie.
„Das Streben nach Gerechtigkeit hat zwei Gesichter“, erklärt Claudia Dalbert, Hochschullehrerin für pädagogische Psychologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Die Forscherin ermittelte unter 400 Befragten das „implizite“ Gerechtigkeitsstreben, also die Bedeutung, die Menschen intuitiv Begriffen wie „Gerechtigkeit“ oder „Ungleichheit“ beimessen. Um das herauszufinden, mussten die Probanden etwa aus Wortreihen ihnen wichtige Ausdrücke auswählen oder Szenen beurteilen. Daraus maß Dalbert ihr „implizites“, also unterbewusstes Gerechtigkeitsstreben.
Die Studienteilnehmer wurden dann mit Bildern konfrontiert, auf denen Menschen zu sehen waren, die vom Schicksal besonders benachteiligt sind. Dazu gehörten Bilder und Filme von Jugendlichen in Slums, hungernden Kindern in Afrika, Flüchtlingen in Zeltlagern.
Gerade die Probanden, die vorher ein starkes unterbewusstes Gerechtigkeitsstreben gezeigt hatten, neigten nun zu unfairen Interpretationen der ihnen gezeigten traurigen Wirklichkeit. „Sie sagten beispielsweise: ‚So schlecht geht es denen doch gar nicht‘ oder ‚Irgendwie sind sie doch selbst schuld‘“, erzählt Dalbert. Auf diese Weise konnten sie die von ihnen eigentlich empfundene unerträgliche Benachteiligung der Abgebildeten als nicht ganz so ungerecht einordnen, erklärt Dalbert.
Die Psychologin spricht dabei von einer „Umwertung“ einer Situation, weil sie dem unterbewussten Gerechtigkeitsempfinden zu stark widerspreche. „Wenn sich ein Mensch besonders machtlos fühlt, etwa angesichts der Benachteiligungen in manchen Ländern, und wenn diese Situationen sehr komplex sind, dann kann man diese Machtlosigkeit und den Kontrollverlust durch Umwertungen kaschieren“, erläutert Dalbert. Dann besonders abgrenzend über die Schwachen zu urteilen, bedeutet, das eigene Hirn gewissermaßen wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Die Welt wird nicht als ganz so ungerecht empfunden, wenn die Schwachen doch irgendwie selbst schuld sind an ihrem Schicksal.
Die „Verleugnung der Opfer“, ist dabei nicht nur auf Menschen in Kriegs- und Krisengebieten beschränkt. Gerade in der Hartz-IV-Debatte ist gut zu sehen, dass angesichts der Massenarbeitslosigkeit viele Menschen dazu neigen, den Langzeiterwerbslosen zunehmend die Schuld an ihrem Schicksal zuzuschieben. Dieses letztlich unfaire Verhalten wird von Dalbert als „Gerechtigkeitsparadox“ bezeichnet.
Die Spannung zwischen Wirklichkeit und eigenem Gerechtigkeitsgefühl tief im Innern würde auch erklären, warum viele Angehörige der Oberschicht etwa bei Langzeiterwerbslosen mehr „Eigenverantwortung“ anmahnen – das reduziert die Schuldgefühle der Reichen.
Zum Gerechtigkeitsparadox gehört zudem, dass moralisch empfindende Menschen oftmals ein Problem damit haben, Unglück als schicksalhaft hinzunehmen. Selbst Schwerkranke oder Unfallopfer suchen mitunter sogar die Schuld in ihrem Pech bei sich, „damit das eigene Schicksal nicht so ungerecht wirkt“, sagt Dalbert.
Schwerkranke kennen zudem das Problem, dass sich die Umwelt von ihnen zurückzieht – die Kluft zwischen dem Schicksal des Kranken und dem Abbild der Wirklichkeit, wie es die Gesunden im Kopf tragen wollen, ist einfach zu groß. Der Kranke wird in gewisser Weise dafür bestraft, dass sein Alltag nicht mehr der gewünschten Realität der Gesunden entspricht.
Macht es also Sinn, die eigenen Urteile öfter mal zu überprüfen, ob nicht ein „Gerechtigkeitsparadox“ dahinter steckt, mit dem wir andere Menschen aburteilen und abgrenzen, um unser Weltbild nicht aus den Fugen geraten zu lassen? Wahrscheinlich schon, denn „gerade, weil einem Gerechtigkeit wichtig ist, könnte Ungerechtigkeit perpetuiert werden“, gibt Dalbert zu bedenken.
Auch in Schulen sollte man sich mehr um die Problematik des „impliziten Gerechtigkeitsmotivs“ kümmern, rät Dalbert. Stimmten die Forschungsergebnisse, neigten gerade die besonders gerechtigkeits-sensiblen SchülerInnen zu ungerechten, verurteilenden Fehlinterpretationen, um real vorhandene Benachteiligungen seelisch irgendwie integrieren zu können.