: Der Eigensinnige
NACHRUF Frank Schirrmacher, Mitherausgeber der FAZ ist im Alter von 54 Jahren gestorben. Er hat seine Zeitung politisch geprägt wie niemand vor ihm. Er hat sie grünen und linken Themen geöffnet und er hat sich mit publizistischer Wucht eingemischt
■ Leben: geboren 5. September 1959 in Wiesbaden, gestorben 12. Juni 2014 in Frankfurt/Main
■ Lernen: Studium der Germanistik, Anglistik, Literatur und Philosophie in Heidelberg und Cambridge, 1984 Hospitanz bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), 1985 Feuilletonredakteur, 1988 Promotion zum Dr. phil.
■ Leiten: 1989 Literatur-Ressortleiter, ab 1994 Mitherausgeber der FAZ mit Zuständigkeit für Feuilleton und Wissenschaft. Maßgeblich beteiligt an der Gründung der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS), die seit 2001 mit beachtlichem Erfolg erscheint.
■ Lenken: Mit seinen Beiträgen und Büchern löste Schirrmacher häufig mediale Debatten aus. Erster Besteller 2004: „Das Methusalem-Komplott“. Es folgten 2006 „Minimum“, 2009 „Payback“ und 2013 „Ego: Das Spiel des Lebens“.
■ Letzter Tweet: „Bilanz des Krieges gegen den Terror: Der Irak fällt in die Hände von Leuten, die selbst al-Qaida zu extrem sind.“ (11. Juni)
VON JAN FEDDERSEN
Bürgerlich war ihm ein wichtiges Wort –vielleicht das wichtigste. Frank Schirrmacher sagte uns während eines Gesprächs in seinem Büro bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, das Bürgerliche sei eine Haltung, die Respekt allen gegenüber bekundet und die allen eine Teilhabe ermöglicht. Eine, die allen zuhört, die Impulse aufgreift, die sich nicht verschließt: Schirrmacher hat mit dieser Tugend sehr viel bewegt. Er wollte ein Bürger sein und wünschte, dass diese Bürgerlichkeit sich nicht mehr reimt auf Wörter wie knöchern, spießig, verstaubt, abwehrend oder soldatisch. „Wer einen Bürgerlichen sieht, muss wollen, dass es immer mehr gibt, die den Aufstieg schaffen – dass es also immer mehr Bürger gibt.“ Schöner, härter hätte es ein Sozialdemokrat auch nicht formulieren können: Das Bürgerliche als Zivilisationsform des Anstands und der politischen Einmischung obendrein.
Geboren 1959 als Sohn eines Beamten, nach dem Studium von Germanistik, Anglistik, Literatur und Philosophie in Heidelberg, Montpellier und an der Yale University in den USA trat er 1985 in die Feuilletonredaktion der FAZ ein. Dieser Teil der Zeitung war seine Passion, seine publizistische Drohne, seine Plattform, um vielleicht nicht die Deutungshoheit über das deutsche und europäische Geistesleben zu gewinnen – aber doch die wichtigsten Debatten zu initiieren.
Frank Schirrmacher war der aufmerksamste Geist. Sprach man mit ihm, per SMS, Tweet oder Mail, wünschte man, ein wenig neidisch: Ach, wären doch klassische Linke ein wenig eher wie er. Ein Unruhiger, ein Freibeuter, ein Intellektueller in einem Sinne, wie er kursorisch-gründlicher nicht zu denken ist. Er schien, als würde er alles, was ihm in den Blick gerät, aufsaugen. Ein Leben im Zustand der Dauerwachheit, der Disziplin, der Neugier. Er sagte, ein Leben ohne intellektuelle Auseinandersetzung sei ihm ein tristes, er stürbe lieber, als dass er keinen Disput im Kopf trage. Nichts war ihm einerlei – ein Feuilleton dürfe nicht nur nichts auslassen, könne sich nicht auf hochkulturelles Tanztheater, auf neutönende Musiktage oder auf experimentelle Theatertreffen beschränken. Im Gegenteil: Ihm – und seinen MitarbeiterInnen – musste alles eine Betrachtung wert sein, Madonna, Computer in Schulen, Gastrofragen, Fernsehserien oder Mode. Dass er den bildungsbürgerlichen Kanon zertrümmerte und Geschmacksfragen langweilend fand, stiftete nicht nur Freundschaft, sondern entzweite auch.
Bourdieu, Kafka, Sternberger sind nur einige seiner intellektuellen Heiligen. Er hat aus dem Feuilleton der FAZ nicht allein ein Debattenforum gemacht – sondern Streitlagen erst entzündet. Fragen der Demographie, des Altwerdens, der Migration, des Feminismus, der modernen Familie und zuletzt immer wieder der Skandal der Entpolitisierung der Internetfragen rund um die NSA-Geschichten. Mit Ewgenij Morozov, einem seiner Lieblingsautoren, verband ihn, dass er für romantische Träume – das Internet als Freiheitsinstrument – nicht zu haben war. Ein jedes muss in die Agora zum Disput getragen werden: Politisch sei das Internet zu verhandeln. Und in diesem Sinne auch die Durchleuchtung des modernen Menschen durch Algorithmen (Google, Amazon you name it) politisch zu entscheiden, nicht geschmäcklerisch.
Über politische Korrektheit hätte man mit ihm nichts erörtern müssen: Er war, was das jüdische Erbe Deutschlands anbetrifft, kompromisslos bis zur Eisigkeit. Die Auschwitzkeulenjammerei eines Martin Walser führte zum Verzicht auf den Nachdruck eines Romans des Autors. Er hätte zu dieser Episode gesagt: Das musste doch offenkundig sein, dass dies eine Frage des Anstands war, in dieser Hinsicht einmal mehr als einmal zu wenig nachzugeben. Wenn ihm eines verhasst war, dann brummsiges Beharren auf Ressentiments. Ein Mann wie Thilo Sarrazin ist nirgendwo so brutal dekonstruiert worden wie in der FAZ – die spätestens mit dieser Debatte ihre klassisch-ständisch-bürgerliche Leserschaft provozierte. Uns, meinem Kollegen Kai Schlieter und mir, sagte er im Gespräch: „Ich glaube, wir unterschätzen, dass wir in einen Zustand geraten sind, wo wir nicht über Moral, sondern über Rationalität diskutieren sollten, darüber, was heute als ‚vernünftiges‘ Handeln gilt.“ Und zum Zeitalter des Internet, der Kolonisierung der Welt durch die Digitalisierung aller Lebensbereiche: „Zumindest in den westlichen Gesellschaften geht es jetzt nicht mehr um die Anpassung und den Schutz des Körpers, sondern des Geistes.“
Und wenn einen die Nachricht erreicht, wie einige Kollegen jetzt bitter erfasst sagen, dass er nicht mehr anzurufen ist, dass keine SMS mehr kommt mit dem Hinweis: „Müssen Sie lesen!“ mit irgendwelchen Lektürefrüchten aus teils abseitigen Periodika, wenn einem klar wird, dass dieser Mann, der wichtigste Blattmacher der Republik überhaupt, nicht mehr ist, dann ist das in der Tat so sehr erschütternd, dass man es nicht glauben möchte. Ein Journalist, der Nachrichten schätzte, aber lieber, mit ihnen im Kopf, Witterung aufzunehmen suchte mit dem, was die kommenden Gefahren oder Möglichkeiten sind: Ein Liberaler im besten Sinne, aber kein Linker. Und ein Europäer, der Nationalistisches verachtete.
Ein Freigeist? Er war zu Gast bei der taz im April 2013, beim taz.lab. Er wünschte, dass die FAZ und die taz kooperieren – denn am Ende der Zeitungskrise, so sagte er, blieben wahrscheinlich nur diese beiden Zeitungen als unabhängig im publizistischen Bereich übrig. Er war ein angenehm unruhiger Mann, der glaubte, das Publikum der taz würde ihn, den Bürgerlichen, bestrafen, weil er so ist, wie er ist. Er bekam am Ende der Veranstaltung zur apokalyptisch anmutenden Digitalisierung der Welt starken Applaus. Die taz trauert.