: Zwischen Gottesstaat und Bürgerkrieg
KRIEG Die Erfolge der radikalislamischen Isis im Irak erklären sich nur mit der Marginalisierung der Sunniten. Denn offenbar erhält Isis von geschassten ehemaligen Armeeoffizieren Saddam Husseins Unterstützung
■ Im Islam gibt es wie in anderen Religionen verschiedene Glaubensrichtungen. Etwa 85 Prozent der Muslime gehören zu den Sunniten, nur zehn zu den Schiiten. Die Spaltung findet ihren Ursprung im Streit um die Nachfolge Mohammeds.
■ Die Schiiten glauben an die Herrschaft der Imame, also der Familienmitglieder des Propheten. Innerhalb der Schiiten gibt es weitere Strömungen, etwa die Alawiten, zu der sich der syrische Diktator Assad zählt. Nach dem Tod Saddam Husseins, der die Schiiten unterdrückte, sind diese im Irak mit an der Macht. Auch die Hisbollah ist schiitisch. Zusammen mit der iranischen Führung unterstützen sich diese Kräfte.
■ Bei den Sunniten stößt die Vergötterung der Imame auf Ablehnung. Nachdem sie jahrzehntelang den Irak dominierten, führte sie der Umsturz nach Husseins Hinrichtung ins Abseits. Sie sehen sich als Verlierer, weshalb im Irak etliche sunnitische Islamisten von Isis aktiv sind. (taz)
VON KARIM EL-GAWHARY
KAIRO taz | Es hat nur wenige Tage gedauert und nichts ist im Irak mehr wie zuvor, mit weitreichenden Konsequenzen für die nahöstliche Nachbarschaft. Mossul ist nach nur wenigen Tagen sporadischer Gefechte in die Hände der radikalen sunnitischen Islamisten der Isis gefallen. Zwei Armeedivisionen von 30.000 Mann sind zusammengebrochen und haben die Stadt fast kampflos den höchstens 3.000 Isis-Kämpfern überlassen. Und die marschieren weiter – Richtung Bagdad.
Der Isis-Erfolg lässt sich nur als Ergebnis einer jahrelangen Entfremdung der Sunniten von der Zentralregierung in Bagdad erklären, in der Premier Nur al-Maliki den Ton angibt. Die Sunniten, einst unter Saddam Hussein die Elite des Landes, sind im politischen System des heutigen Iraks außen vorgelassen.
Dass die Isis in den sunnitischen Gebieten teils mit offenen Armen aufgenommen wird, hat viel mit der Marginalisierung der Sunniten im Irak zu tun. Offensichtlich konnten sich die Isis-Kämpfer darauf verlassen, dass sunnitische Exoffiziere der einstigen Saddam-Armee ihnen helfend unter die Arme greifen – vielleicht sogar mehr als das.
Manche der Bewegungen der Isis-Kämpfer erinnern eher an eine stabsmäßig geplante Offensive als an das Vorrücken einer Rebellenarmee und tragen die Handschrift ehemaliger Saddam-Offiziere. Insofern sind die Ereignisse auch Konsequenz der damaligen Entscheidung der US-Invasoren, Saddams Armee aufzulösen. Was macht eine Stadt voller arbeitsloser, politisch marginalisierter, aber gut ausgebildeter Armeeoffiziere, wenn die verhasste, von Schiiten dominierte heutige Armee herausgefordert wird?
Mit dem faktischen Zusammenbruch der Armee wird die Frage akut, wer nun dieses entstandene Sicherheitsvakuum ausfüllen kann. Wer kann sich überhaupt noch den Isis-Kämpfern effektiv entgegenstellen? Dafür kommen nur zwei Kräfte infrage: die kurdischen Peschmerga-Kämpfer und schiitische Milizen. Einer der Peschmerga-Sprecher, Halgord Hekmat, hat bereits erklärt, dass der Kollaps der irakischen Armee die kurdischen Kämpfer praktisch dazu zwinge, aktiv zu werden. Auch Schiitenprediger Muktada al-Sadr hat angekündigt, wieder seine berüchtigten Milizen zu mobilisieren. Damit wäre der Irak den alten Bürgerkriegszeiten und einer Dreiteilung des Landes wieder gefährlich nahegekommen.
Es gibt zwei Entwicklungen, auf die nun ein Auge geworfen muss. Die erste betrifft die Zentralregierung in Bagdad. Dort ist Premier Nur al-Maliki erheblich angezählt. Ein Nachfolger für al-Maliki muss gefunden werden, der den Sunniten die Hand ausstreckt. Das wäre die beste Isis-Bekämpfung, wenn es dafür nicht schon zu spät ist.
Das zweite Augenmerk muss den Sunniten selbst gelten. Die Zusammenarbeit zwischen Isis und früheren Armeeoffizieren macht die Stärke des militärischen Vormarschs aus. Aber während den einen erklärtermaßen ein islamisches Kalifat vorschwebt, entstammen die anderen dem Gedankengut des säkularen arabischen Nationalismus. Hier sind die Bruchlinien vorgezeichnet.
Überdeckt werden dürften diese allerdings vorläufig dadurch, dass Isis nun große Mengen an Waffen und Geld besitzt. Allein in Mossul sollen sie Banknoten im Wert von 480 Millionen Dollar erbeutet haben. Besonders bei den sunnitischen Stammesführern außerhalb der Städte dürfte sich da Loyalität erkaufen lassen.
Bleibt die Frage, wie sich die neu gemischten Karten im Irak auf die Nachbarn auswirken werden. Die Türkei ist mit dem Vormarsch der Isis-Kämpfer alles andere als glücklich. Genauso wenig dürfte Ankara begeistert sein, wenn die Kurden nun gegen Isis vorgehen. Denn am Ende dürften die Kurden für diesen Dienst von der Zentralregierung in Bagdad einen Preis verlangen, der sie stärken und damit die Türkei beunruhigen wird.
Der Iran gehört neben den USA zu den großen Verlierern der letzten Tage im Irak. Entweder etabliert sich in Bagdad eine Regierung, die einen Ausgleich mit den Sunniten sucht – und das wäre keine iranische Marionette wie die heutige Al-Maliki-Regierung. Oder Teheran hält die Zügel in Bagdad fest in der Hand zu dem Preis, dass der Irak auseinanderbrechen und damit der iranische Einfluss geografisch schwinden wird.
Ironischerweise könnte der Isis-Vormarsch sogar das amerikanisch-iranische Verhältnis verändern – schließlich sitzt man in Sachen Isis in Washington und Teheran in einem Boot. Dagegen steht, dass in Syrien der eine die Rebellen, der andere die Regierung Assad unterstützt. Aber vielleicht ist der Isis-Vormarsch ein Weckruf, sich zur Beendigung des syrischen Bürgerkriegs zusammenzuraufen.