: Vier Kindstötungen und ihre Folgen
Untersuchungen, Statistiken, Frühwarnsysteme: Reaktionen auf die bekannt gewordene Gewalt in den Familien
Justin wurde nur sieben Monate alt. Im November 2005 starb der Junge in einer Bochumer Wohnung. Sein Stiefvater soll ihn beim Baden mit 60 Grad heißem Wasser „abgeduscht“ haben. Aus Ärger, weil Justin geschrien hatte. Seit August müssen sich die Mutter des toten Jungen und ihr Lebensgefährte vor einem Bochumer Schwurgericht verantworten.
Nach Zeugenaussagen im Prozess leitete die Staatsanwaltschaft auch Ermittlungen gegen „Bedienstete des Jugendamtes“ ein. Ihnen wird „fahrlässige Körperverletzung oder fahrlässige Tötung“ vorgeworfen, berichtete die Staatsanwaltschaft. Hintergrund sei die mangelnde Betreuung der Familie.
Im Oktober wurde in Bremen Kevin tot in einer Tiefkühltruhe gefunden. Auch hier gab es massive Versäumnisse des Jugendamtes. Die Sozialsenatorin musste zurück treten. Danach riss die öffentliche Diskussion um den Schutz von Kindern nicht mehr ab. Drei Tage später starb der vier Jahre alte Mehmet aus Zwickau an Hirnblutungen. Seine Mutter und der Stiefvater wurden Mitte Dezember wegen Totschlags angeklagt. Vergangene Woche wird der zehn Monate alte Leon in Sömmerda tot in einer Wohnung gefunden. Die Mutter hatte ihre Kinder vier Tage lang allein zurück gelassen.
Erschreckende Tragödien. Dennoch: Laut der Dortmunder Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik nehmen Kindstötungen entgegen der öffentlichen Wahrnehmung in den letzten Jahren tendenziell eher ab.
Nicht so bei den Misshandlungen. „Seit 1998 hat sich in der Kriminalitätsstatistik die Zahl der schweren Gewaltfälle in Familien mehr als verdoppelt,“ sagt Heinz Hilgers, Dormagener Bürgermeister und Vorsitzender des Deutschen Kinderschutzbundes. Und er habe „keinen Anlass zu denken, dass nur mehr Taten angezeigt würden.“ Er befürchte, dass die Zahl der Übergriffe steigt.
Die designierte Landesvorsitzende der NRW-SPD, Hannelore Kraft, forderte kurz nach Bekanntwerden des Falls Kevin aus Bremen, die Auszahlung des Kindergeldes an die Teilnahme an der ärztlichen Vorsorgeuntersuchung zu koppeln. „Ich glaube, dass ist ein guter Anreiz dafür, dass die Vorsorgeuntersuchungen auch tatsächlich statt finden.“
NRW-Familienminister Armin Laschet (CDU) baut hingegen auf das „Frühwarnsystem“, eine Vernetzung von Projekten in den Städten. Die Idee stammt von seiner Kollegin im Bund, Ursula von der Leyen. Es fehle in NRW weder das Geld noch das Personal, um Kindesmisshandlungen aufzudecken, so der Minister am Sonntag.
Er widersprach damit Kinderschützer Hilgers, der davon gesprochen hatte, das Jugendhilfesystem stehe vor dem „Kollaps“. BENJAMIN WASSEN